Ludmila Bolotnova
Höre, Tochter, und sieh, und neige Dein Ohr,
und vergiss Dein Volk und das Haus Deines Vaters,
denn es verlangt der König nach Deiner Schönheit,
denn Er ist Dein Herr, und Du wirst ihn anbeten.
(Psalm 44, 11-12)
Am Sonntag des Sieges der Orthodoxie im Jahre 2006 weihte der Rektor der Moskauer Geistlichen Akademie und des (geistlichen) Seminars, Erzbischof Eugenios (Ewgenij) von Vereja zum Diakon den Studenten des dritten Seminarkurses, Thomas Dietz. Er wurde zur Moskauer geistlichen Schule geschickt mit dem Segen des Heiligsten Patriarchen von Moskau und ganz Russland Alexej II, als Antwort auf die Fürsprache des Erzbischofs von Berlin und Deutschland Mark. Das war der erste Diakon und Kandidat der Russischen Auslandskirche, der die Handauflegung empfing im Moskauer Patriachat. Jetzt dient der Priester Thomas Dietz in Moskau, in der Kirche des Allgnädigen Retters des ehemaligen Skorbjaschenskij-Klosters. Auch ist er Redakteur der deutschen Seite des Internet-Projektes „Nicht erfundene Erzählungen über den Krieg“. Vater Thomas und Mátuschka Ioanna haben vier heranwachsende Töchter[i].
– Was ist der Grund der Suche nach einer neuen Religion, einem neuen Glauben? Was hat zu dieser Entscheidung verholfen? Welche Leute, welche Ereignisse? War ihre Familie denn religiös?
Ich wurde 1963 in einer deutschen lutheranischen Familie geboren, das ABC des Glaubens brachte mir mein Vater bei. Er war gläubig, Lutheraner. Von Kindheit an war ich ein gläubiger Mensch und bekannte meinen Glauben vor Gleichaltrigen. Das jugendliche Heranwachsen bedeutete für mich ein ernsthaftes Trauma. Ich habe es in diesen Jahren sehr schwer gehabt. Die Schule mit ihrer Orientierung auf Erfolg stieß mich ab, mit ihrem Wunsch in der Jugend Konkurrenz und das Streben nach Karriere wachzurufen, und gleichzeitig mit ihrem Unvermögen, auf die Fragen nach dem Sinn des Lebens Antwort zu geben. Wie auch die meisten Menschen, verlor ich meinen Kindheitsglauben im Alter von 15-16 Jahren. Nach dem Abschluss des Gymnasiums besuchte ich Kurse der Katechisation in einer katholischen Gemeinde in der Umgebung Münchens. Das war der „Weg des Neokatechumenats“, eine der sogenannten geistlichen „Bewegungen“ der Römisch-Katholischen Kirche: in kleinen Gemeinden wird das Wort Gottes gelesen und die Beichte abgenommen und die Eucharistie gefeiert. Und hier, in dieser Bewegung, fand ich eine gewisse Stütze in meiner Einsamkeit und bei meiner religiösen Suche.
– Das heißt, die Suche ging weiter.
Im Jahr 1985 fing begann ich an der der Architektur-Fakultät in München zu studieren, aber ich vertiefte mich auch mit großer Begeisterung und nicht weniger mit Hingabe in das Leben der katholischen Kirche, wurde Katechisator, nahm an vielen Pilgerreisen nach Italien teil, zum Zentrum der oben genannten Bewegung, und nahm den katholischen Glauben an. Sehr wichtig für meinen ganzen weiteren Lebensweg wurde das Jahr 1988, als ich an der Missionsarbeit des Neokatechumenats in Westberlin teilnahm. Das war das letzte Jahr vor dem Berliner Mauerfall. Eigentlich begleitete ich einen italienischen Priester mit vier kinderreichen Familien aus München und Wien, die vom katholischen Kardinal von Berlin zur ständigen Evangelisation in dieser Stadt eingeladen wurden. Das Erleben gemeinsamen Gebets, gemeinsamer Arbeit, die Verkündigung des Evangeliums und das Familienleben in dessen Licht, und auch die erste Bekanntschaft mit Orthodoxie in ihrem russischen „Gewand“ haben in mir alle Erwartungen an das Leben völlig verändert. Es geht darum, dass die Wellen der Feier des Millenniums der Taufe der Heiligen Rus sogar bis nach West-Berlin rollten, und wir konnten sogar viel darüber in der Presse lesen. Ich begann, die russische Sprache zu studieren (wir haben so gelacht, als wir das Wort „prepodawatjelniza“ (Dozentin) zum ersten Mal auf dem Kassettenrecorder hörten). Die Chancen, die Sprache wirklich zu erlernen, schienen mir gering. Aber ich war stur, und das russische Wort wurde für mich bald zur Verkörperung der Schönheit des Sprechens. Ich mag die slawische Sprache sehr. Sie ist wie eine Glocke, wie eine mächtige Glocke. Sie ist ein sehr guter Weg dafür, dass ein Wort klingt, seinen Reichtum hergibt, seinen Inhalt durch die Schönheit des Lauts…
Seit diesem Jahr entflammte in mir der Wunsch, Missionar der katholischen Kirche in Russland zu werden.
Nachdem ich in meine Heimatstadt München zurückgekehrt war, um meine Ausbildung fortzusetzen, wollte ich mich verheiraten, doch Gott hatte andere Pläne. Er bereitete mich allmählich vor zum Empfang der heiligen Orthodoxie.
Ich erinnere mich, als ich per Radio den Gesang „Ich bete an die Macht der Liebe“ („Wenn unser Gott verherrlicht wird in Zion“) von Bortnjanskij[ii] hörte, brach ich in Tränen aus. Und bis jetzt passiert dasselbe mit mir, wenn die geistlichen Gesänge unserer Kirche gesungen werden, wo die ganze Seele hineingelegt wird. Im Westen, in katholischen Kirchen, beginnen sie jetzt, Gesang mit Orgelbegleitung durch Gesänge mit Gitarre zu ersetzen. Diese Versuche sind legitim, denn die Gesänge des traditionellen Katholizismus vermögen nicht, im Menschen das Gefühl der Reue hervorzurufen. Etwas ganz anderes ist die entstandene musikalische Tradition der Orthodoxie. Ihre Tiefe ist nicht vergleichbar mit Gesängen, welche jetzt im Katholizismus zur Ausführung gelangen, oder in anderen heterodoxen Konfessionen.
– Haben Sie viel über Orthodoxie gelesen? Wie ging dieses Eindringen in die Welt einer ganz anderen Kultur und Religion vor sich?
Alles, was ich nur fand in der deutschen Literatur über Orthodoxie, habe ich durchgelesen. Besonders gefallen hat mir die Lebensbeschreibung des heiligen Johannes von Kronstadt und sein „Leben in Christo“. Und auch „Die aufrichtigen Erzählungen eines russischen Pilgers“. Ich hegte durchaus Besorgnis, der Orthodoxie zu nahe zu kommen, fürchtete um meinen katholischen Glauben, und betete zur Allheiligen Gottesgebärerin, dass ich ihn nicht verlieren möge. So schlug ich ab, als ich eingeladen wurde, das russische Ostern in München zu besuchen. In den Jahren 1990/1991 wurde ich wieder zur Missionsarbeit des Neokatechumenats abgestellt, diesmal nach Ungarn. Damit war schon die Berufung zum Priesteramt angelegt, und, nachdem ich das Architekturfach abgeschlossen hatte, wechselte ich ans Internationale Katholische Seminar der Stadt Berlin.
– Interessant ist der Weg aus einer anderen Religion, aus Deutschland, in die Orthodoxie. Dabei nicht nur einfach den Glauben anzunehmen, sondern Priester werden und die Weihe bekommen.
Da liefen zwei Prozesse parallel. Der eine Prozess – das ist mein Einbezug in die katholische Gemeinde seit dem Alter von 19 Jahren – und der andere, das schrittweise Wachstum meines Interesses an der Orthodoxie, was einige Jahre später begann. Ich las alles, was zu finden, was damals in deutscher Sprache zugänglich war. Es gibt ja Werke der russischen Kirchenväter in deutscher Sprache, ihre Biographien, so auch eine Einführung in das Jesusgebet.
Als ich am katholischen Seminar studierte, in den Jahren von 1992 bis 1998, fühlte ich bald, dass diese beiden Sphären sich nicht miteinander in Verbindung setzen ließen. Das katholische Seminar akzentuierte stark das Gemeindeleben und den Verzicht jedes Zöglings auf persönliche Interessen und Vorlieben. Ich verstand, wenn ich katholischer Priester werden will, dann hätte ich früher oder später auf meinen Hang zur Orthodoxie verzichten müssen. Aber wollte ich das denn? Worin besteht der Wille Gottes? Ich beschloss, mich dadurch zu prüfen, dass ich Verzicht auf alles nahm, was mit Russland, mit Orthodoxie, mit allen meinen Lehrwerken und Büchern verbunden war. Seit diesem Moment vergingen 3-1/2 Jahre, und der Herr antwortet mir klar, was mit meinem Leben zu geschehen hat. Aber damals war ich schon in Rom…
– Und wie viele Jahre studierten sie in Rom?
Ein Jahr zur Stufe des Bakkalaureats Theologie. Der Wunsch, Priester zu werden, erlosch, und es ergab sich, dass der Weg des Zölibats nichts für mich war. Ich war genötigt, das abzulehnen, und kam nachhause zurück, in meine Heimatstadt München. Wieder begann ich meinen Beruf als Architekt auszuüben. Gott sei Dank fand ich eine Stelle. Und dann entledigte ich mich aller Selbstbeschränkungen, fing an, die Gottesdienste in der Kathedrale der Russischen Auslandskirche zu besuchen und beschäftigte mich mit orthodoxer Theologie. Die Ekklesiologie der Orthodoxen Kirche war ein Stein des Anstoßes für meine damals noch katholische Auffassung der Theologie und der Lehre über die Kirche. Wichtig ist zu verstehen, dass die Auslandskirche sich immer von jeder ökumenistischen Gesinnung fernhielt, und infolgedessen nicht nur behauptete, dass die Katholische Kirche historisch von der Orthodoxie abgefallen war, sondern auch, dass ihre Abweichungen in der Glaubenslehre zur Häresie führten. So etwas hörte ich damals zum ersten Mal.
– Wissen die Katholiken darüber nichts?
Sie sind Anhänger der Zweigtheorie, welche bei uns vom Bischofskonzil der Russischen Kirche im Jahr 2000 verurteilt wurde. Im katholischen Bewusstsein gibt es keine wesentlichen Unterschiede in der Glaubenslehre zwischen Orthodoxie und Katholizismus. Wie doch könnte es möglich sein zu denken, dass der katholische Glaube schädlich sei, wenn eine Milliarde Menschen ihn bekennen? Anfangs zweifelte ich: sind das nicht doch Fanatiker, diese „Auslandskirchler“? Aber später wurde ich davon überzeugt, dass die anderen Orthodoxen Kirchen das Gleiche lehren, sie treten nur etwas diplomatischer auf. Dank der Kompromisslosigkeit der Auslandskirche in Beziehung auf Heterodoxe öffneten sich mir die Türen der heiligen Orthodoxie, wofür ich ihr sehr dankbar bin.
– War das ein schwieriger Prozess?
Die Festung stürzte ein. Dass das Haupt der Kirche der Papst sei. Und dass sie unfehlbar die Heilige Tradition beschützt und überliefert. Das brach damals in meinem Bewusstsein zusammen. Es gibt noch etwas Wichtiges, und ich muss das sagen. Im Katholizismus gibt es viel Sympathie für die Orthodoxe Kirche. Zum Beispiel schrieb der damalige Papst Johannes Paul II. nicht wenig über die Orthodoxie, und gleich viel über das Mönchtum. Er sprach darüber, dass viel Kraft aufgeboten werden muss, um die verlorene Einheit mit der Orthodoxen Kirche wiederzufinden. Die verlorene Einheit: in Wirklichkeit verloren die Katholiken die Einheit der Kirche. Sogar Kardinal Walter Kasper, der der Kongregation für Kircheneinheit in Rom vorsteht, erkannte an, dass die Trennung von der Orthodoxie die westliche Kirche in eine tiefe Krise führte, in den Jahrhunderten, welche dem Großen Schisma im Jahre 1054 folgten, und letztendlich die Reformation hervorrief.
– Also, das wird sogar von Kasper bestätigt.
Ja. Für mich war der Gedanke über die Auffindung der Einheit in der Kirche sehr wichtig. Der Herr hat sie mir ans Herz gelegt. Und ich fand die Antwort bei der Suche nach der Einheit der Kirche in der Orthodoxie und ihrer Lehre. Als ich deshalb sah, dass es in der Orthodoxie keine Abweichungen von der Heiligen Überlieferung gab, sondern deren getreue und vollständige Aufbewahrung, trat ich ans andere Ufer des Flusses. Mir schien, dass ein solcher Schritt etwas spät stattfand – ich war damals 36 Jahre alt; und noch mehr als das – es war ein großes Risiko. Denn alle meine Bekannten, das ganze Milieu der Bewegung des Neokatechumenats – alle waren katholisch. Und ich wusste, dass unsere Beziehungen, freiwillig oder unfreiwillig, für immer abreißen würden. So geschah es auch.
– War es leicht für Sie, in die orthodoxe Umgebung einzutreten?
Ja, relativ leicht. Ich kannte die russische Sprache, konnte sprechen, umso mehr, als Erzbischof Mark (Vladyka) viel für die Deutschen damals tat und heute tut. Deshalb fiel es mir relativ leicht, ich liebte die russische Kultur. Natürlich war es für andere Deutsche, die nicht russisch sprachen, viel schwieriger, sich in der Umgebung einer russischen Gemeinde zu behaupten. Und manch einer, der in die Orthodoxie übertrat, ging dann nach einigen Jahren wieder weg. Für einen Deutschen ist es sehr schwer, die Orthodoxie anzunehmen, weil alle in Deutschland existierenden orthodoxen Kirchen einen starken Akzent auf die Bewahrung ihrer Sprache und ihrer Kultur legen.
– Meinen Sie die Sprache der Gottesdienste?
Sowohl die Sprache der Gottesdienste, als auch die Sprache der Kommunikation untereinander. Deshalb stellt sich den Menschen ein Problem: nicht nur das liturgische Leben ändert sich, sondern er tritt aus der Westlichen in eine Byzantinische Welt des Gottesdienstes ein. Wir wissen alle, dass die Orthodoxie sich nicht durch den Gebrauch der Liturgie herausgebildet hat. Der (west!)römische Ritus des Gottesdienstes wurde auch für orthodox gehalten, bis zur Teilung (der Kirche). Die Orthodoxie wird bestimmt durch Theologie, Geist und Gebet. Aber die Orthodoxe Kirche des westlichen Ritus existiert heute nicht mehr, zumindest nicht in Deutschland, und deshalb stehen die Deutschen einerseits vor der Notwendigkeit, sich umzugewöhnen, sich in den byzantinischen Ritus einzuleben, und andererseits, sich zusätzlich in neuer sprachlicher Umgebung zu orientieren. Diese doppelte Schwierigkeit erklärt, warum bis jetzt so wenig Deutsche die Orthodoxie annehmen. Ein Teil von ihnen zieht es vor, nach Annahme der Orthodoxie das Vaterland zu verlassen, um in Griechenland oder in Russland zu leben.
– Sie konvertierten in München?
Ja, im Jahr 2000 in der Kathedrale der Neumärtyrer und Bekenner Russlands und des Heiligen Nikolaus von Myra. Ich begann sofort, auf dem Kliros (im Chor) einen Gehorsam zu übernehmen. Ich fühlte, dass Gott mich zum Priestertum rief. Das, was unmöglich war bei den Katholiken, schien wirklich zu werden mit den Voraussetzungen der Orthodoxie. Erzbischof Mark unterstützte mich in meiner Absicht, die Priesterweihe zu empfangen, freilich nach einigen Bedenken. Später reifte in mir der Wunsch, eine Ausbildung in Russland zu erhalten und dort zu bleiben. Ich fühlte das wie einen Ruf, wie eine Fürbitte des Heiligen Nikolaus, dass mein Weg dorthin gehen soll, nach Russland, für lange, und vielleicht für immer. Wir begannen nach Möglichkeiten zu suchen. Zuerst dachte Vladyka Mark an die Hl.-Tichon-Universität Doch danach schien es eher, dass der geeignetste Ort das Moskauer Geistliche Seminar in Sergiev Possad war. Im Jahr 2006 wurde ich Diakon, als erster Kandidat der Russischen Auslandskirche im Moskauer Patriarchat. Das war damals ein großes Ereignis, welches für die unmittelbar bevorstehende Vereinigung der zwei Kirchen als Signal diente.
– Ist für Sie die Frage der Wechselbeziehungen zwischen Orthodoxie und Katholizismus aktuell?
Sehr aktuell. Das wichtigste Thema bleibt zum gegenwärtigen Zeitpunkt in unseren Wechselbeziehungen der Primat des Papstes. Wir betrachten gewöhnlich die Frage des Primats, der Vorrangstellung des Petrus und seines Dienstes als ein isoliertes, einzelnes Faktum, als ob das nur eine administrative oder juristische Frage tangieren würde. Aber sie zeigt sich auch im geistigen Leben des Menschen in der katholischen Kirche. Wie ist das zu verstehen? Der römische Papst erhebt den Anspruch auf Unfehlbarkeit, was für uns, die Orthodoxen eine Entstellung der Heiligen Überlieferung darstellt. Das ist für die Orthodoxie nicht annehmbar, kein einziger Mensch kann sich als unfehlbar bezeichnen. Und mit der Anerkennung der Unfehlbarkeit ist verbunden die Frage des Gehorsams. Einem unfehlbaren Menschen, wenn es auch nur Fragen der Glaubenslehre beträfe, muss man bedingungslosen Gehorsam erweisen. Es zeigt sich, dass das für Katholiken spezifische Gebot des Gehorsams alle Ebenen der Hierarchie durchdringt. Sogar unter einfachen Gläubigen flammt so eine Phrase auf: „Du sollst mir Gehorsam erweisen“. Was schließt Gehorsam ein, und worin besteht die christliche Freiheit, die Freiheit des Gewissens vor Gott nach unserer Auffassung? In der Orthodoxen Kirche gibt es große Freiheit und Verantwortung des Menschen. Ein Starez (geistlicher Lehrer) orientiert und belehrt die Schafe seiner Herde im geistlichen Leben so, als ob er zusammen mit ihnen den Willen Gottes suchte (gemeinsam wachsend). Der Beichtvater, der dem Willen seines geistlichen Kindes zuhört, begreift, dass möglicherweise in ihm die Stimme Gottes zum Ausdruck kommen wird. Die Theologie der griechischen Väter der Kirche (Gregor von Nyssa, Basilios der Große) bewertet den menschlichen Willen viel positiver als die westliche unter dem Einfluss des seligen Augustin. Eine Widerspiegelung davon finden wir im Gebet des hl. Symeon des neuen Theologen: „Gib mir die Kühnheit, das zu sprechen, was ich will, mein Christus! Noch mehr: Lehre mich das, was mir zu sagen und zu tun gebührt“ (Gebetsfolge zur Heiligen Eucharistie, 7. Gebet). In hoher Wertschätzung der Freiheit und des Willens des Menschen als Voraussetzung christlichen Gehorsams sehe ich den Unterschied zum katholischen Verständnis. Für den Katholizismus ist die Bedingungslosigkeit charakteristisch, aber für uns ist dieser Geist fremd.
– Und was sagen wir zu dieser bekannten Parabel? Ein Starez befahl seinem Schüler, eine gelbe Rübe zu einzupflanzen, aber mit den kleinen Wurzeln nach oben. Und der Schüler dachte, „Schau an, der Starez hat etwas verwechselt“. Und pflanzte auf richtige Weise das Grünzeug nach oben. Natürlich ging die Rübe auf. Da sprach der Schüler zum Starez: „Schauen Sie, die Rübe ist aufgegangen, weil ich Ihnen nicht gehorcht habe“. Darauf erwiderte der Starez: „Aber umgekehrt wäre Dein Gehorsam aufgegangen“.
Gehorsam ist nötig. Aber welchen Unterschied gibt es hier? Gehorsam heißt, dass ich manchmal genötigt bin das zu tun, was ich nicht verstehe. Und wie ein treuer Schüler muss ich jetzt nicht verstehen. Ich kann dem Starez vertrauen, dass Gott ihn führt, und kann das tun, was er sagt, im Gehorsam, obwohl ich noch nicht verstehe bis jetzt. Das ist die orthodoxe Auffassung. Hier sind wir noch einig. Wo unsere Wege mit den Katholiken auseinandergehen, das ist der Punkt, wenn der Katholizismus unbedingten Gehorsam verlangt dafür, überhaupt in einer konkreten Gemeinde und überhaupt im Schoße der Kirche zu bleiben.
– Brauchen wir einen Dialog mit den Katholiken?
Man muss sehr wachsam sein im Kontakt mit Katholiken, und darf nicht vergessen, dass ihre Lehre über die Kirche (Ekklesiologie) einen riesigen Fels des Stolzes verbirgt, den zu zerbrechen nicht leicht ist. Hier ist Elastizität und Weisheit nötig, um nicht nur die eigene Position nicht aufzugeben, sondern auch, im guten Sinne, diesen Stolz der theologischen Lehre, das Primat betreffend, aufzubrechen. Wir sind auch verpflichtet, für die Einheit zu beten, damit jene, die die Einheit mit uns verloren haben, in den Schoß der Kirche zurückkehren. Gott ist mächtig, dies Schritt für Schritt zu verwirklichen. Deshalb sind Kontakte mit Katholiken und Dialoge nur nützlich, wenn sie auf dem Boden der Wahrheit stattfinden. Es ist notwendig, unterscheiden zu können zwischen Fragen von erstrangiger und zweitrangiger Bedeutung. Es ist notwendig, katholische Theologen in breitem Maßstab mit orthodoxer Theologie bekanntzumachen, welche sich, das ist interessant, in keinem einzigen Lehrplan der Fakultäten katholischer Theologie für den Erwerb des Diploms oder der Stufe des Bakkalaureats vorfindet. Ein gewöhnlicher katholischer Priester ist mit der Orthodoxie überhaupt nicht bekannt, er kennt ihre Lehre nicht. In der russischen orthodoxen Kirche studiert jeder Priester mindestens ein Jahr lang die Grundlagen der westlichen christlichen Konfessionen.
Wenn die katholische Kirche weiterhin auf der Suche nach Einheit an unsere Türen klopft, müssen wir ihnen vorschlagen: führen Sie die Grundlagen der orthodoxen Theologie als Pflichtfach der theologischen Ausbildung des künftigen katholischen Priesters ein.
– Es wird oft gesagt, dass das nicht die Suche nach der Einheit ist, sondern die Suche nach einer neuen Herde. Oft wird davon gesprochen, dass die katholische Kirche einen Verlust gläubigen Volkes erlebt, und Russland ist ein traditionell gläubiges Land. Und deshalb diese Suche nach einer neuen Herde.
Ich glaube nicht, dass Rom auf erfolgreiche missionarische Tätigkeit in Russland setzt. Die Katholiken werden hier einfach nicht angenommen. Ich bin aber nicht ausreichend informiert, wie sehr sich die (mit Rom) Unierten in Russland und in den GUS-Ländern damit befassen, Werbung zu betreiben. Aber es gibt mittelbare, indirekte Einflüsse der katholischen Kirche auf die Orthodoxie. Das sind zum Beispiel ihre Missionsbewegungen, die nach der Wende, zu Beginn der neunziger Jahre, ihre Tätigkeit in Russland starteten, direkt in Moskau. Zu ihnen zählt ebenso der „Weg des Neokatechumenats“, zu welchem auch orthodoxe Gläubige gehören, die sich bemühen in unseren Gemeinden diesen Weg einzuführen. Die Schwierigkeit besteht darin, dass Gläubige, die sich zehn, zwanzig Jahre in ununterbrochener Gebetsgemeinschaft mit Katholiken befanden, sich von ihnen im Ergebnis schon durch nichts mehr unterscheiden: für sie erweisen sich Gottesdienste wie die Nachtwache als des Sinnes beraubt, die kirchenslawische Sprache erscheint bloß als Hindernis, die Ikonenverehrung übertrieben, die dogmatischen Unterschiede zwischen Katholizismus und Orthodoxie gelten als unwesentlich. Und indem sie Katechisation – unter anderem Namen selbstverständlich – in unseren Gemeinden betreiben, pflanzen sie bedauerlicherweise diesen Geist bei orthodoxen Gläubigen ein. Es gibt bei uns bis jetzt keinen Schutzmechanismus gegen diesen neuen Typus katholischer Missionsarbeit.
– Wollen wir nun die Theologie ein wenig beiseitelassen… Wie wurde ihre Familie gegründet? Wie haben Sie einander getroffen, wie kennengelernt? Wie konnte eine so bemerkenswerte Familie entstehen, die Familie eines orthodoxen Priesters, und dazu noch in Russland? Denn viele möchten Russland verlassen.
Meine Mátuschka (Ehegattin des Priesters) kommt aus Bjelostók, das ist Ost-Polen, und stammt aus einer orthodoxen Familie. Sie kam auch zum Studium nach Sérgiev Possád mit dem Segen des Erzbischofs Jakov (von Bjelostók und Gdansk). Und dort lernten wir uns auf dem Kliros (im Chor) kennen. Der Anfang war schwierig, denn ich wollte in Russland bleiben, und sie nach Polen zurückkehren. Erst jetzt beginnen wir zu verstehen, wie der Herr unsere Geschichte lenkt. Es entstanden Freundschaften und Freunde. Wir bekamen Kinder. Mit der Zeit wurde es leichter, in Russland zu leben, dank einer Gemeinde und Umgebung, die uns stark unterstützen. Wir befinden uns gleichsam im Schoße einer großen Familie. Wie viel Hilfe bekamen wir, als es sogar auf finanzieller Ebene sehr schwierig wurde durchzuhalten. Da hilft jemand mit dem Arzt, jemand mit dem Auto, und jemand mit der Wohnung. Kompliziert ist es natürlich mit der Sprache, besonders für mich. Die Predigten werden russisch gehalten, das ist keine einfache Sache. Manchmal stört der Akzent, manchmal die Intonation.
– Gehen ihre Pläne jetzt darauf, hier zu leben, in Russland?
Wenn es gelingt, alle Alltagsprobleme zu lösen, darunter auch die Wohnungsfrage, und der Erzbischof seinen Segen gibt, dann werden wir in Russland bleiben.
– Als sie in Russland anfingen zu dienen, hier zu arbeiten, mit Menschen Umgang zu haben, mit der Gemeinde, worin bestand die Schwierigkeit? Worin besteht der Unterschied zu einer deutschen, katholischen Gemeinde, worin liegt das Plus, das Minus? Was möglicherweise wundert Sie?
Wenn wir vergleichen mit dem Katholizismus, dann ist der Unterschied derart groß, dass es einfach keinen Sinn macht, zu vergleichen. In Russland springt mir ins Auge, dass sehr wichtig die persönlichen Beziehungen zum Beichtvater sind. Im Rahmen der Beichte werden im Prinzip alle wichtigen Fragen gelöst. Und das war für mich etwas vollkommen Neues. Ich wusste aus dem Katholizismus, dass sehr viel Privates gemeinsam und offen entschieden wird, zum Beispiel bei den katechetischen Begegnungen. In gewissem Sinne ersetzt bei uns die Beichte das Fehlen solcher Treffen.
Sie ist in ihrer individuellen Handhabung ein mächtiges Mittel der Seelsorge, bei allen, die zur Eucharistie kommen.
Aber es ist ein Mangel an Kontakt zu spüren unter den Gläubigen. Und es ist wünschenswert, dass Gruppen und Bruderschaften entstehen, wo Menschen zusammen leben und alles miteinander teilen könnten. Bei einer kleinen Gemeinde entsteht so etwas. Solche Bruderschaften existierten im 17. und 18. Jahrhundert im Südwesten Russlands, aber auch jetzt gibt es eine Bruderschaft, des „Allgnädigen Retters“ in Moskau, und andere.
Mit einigen Mitgliedern der Missionsbewegung, welche durch Priester Daniel Sisójev gegründet wurde, denken wir nach über die Gründung einer missionarisch-theologischen Bruderschaft[iii]
– Erzählen Sie von Ihrer Familie. Wie gehen Sie mit Ihren Kindern um? In welcher Sprache?
Wir sind so eine Familie mit Eltern aus zwei Nationen. Pädagogen und Freunde rieten, uns den Kindern in unserer eigenen Sprache zuzuwenden. Das heißt, dass ich das ausschließlich tue in deutscher Sprache, und meine Frau in polnischer Sprache. Untereinander sprechen wir dann nur Russisch, unserer einzigen gemeinsamen Sprache. Die Kinder reden mich an auf Russisch, und meine Frau auf Russisch oder Polnisch.
– Wie wird die Familie im Westen behandelt, und wie hier in Russland. Gibt es einen großen Unterschied oder keinen?
(Mátuschka Joanna): Alltägliche Nicht-Geborgenheit. Manchmal einfach schrecklich.
– Ist es schwer, als Familie zu leben? Die Mehrheit der Leute flieht nach Westen, einige wegen der Kinder. Und sie von dort hierher.
Wir lebten hier lange quasi vogelfrei, ohne Rechte. Jetzt haben wir immerhin schon eine Erlaubnis für befristeten Aufenthalt – noch für zwei Jahre. Die soziale Sicherung ausländischer Bürger in Russland fällt, im Unterschied zur EU, schwächer aus als für die einheimische Bevölkerung.
– Und vier Kinder! Und wie steht es mit der Krankenversicherung?
Unser jetziger Status schließt schon freie medizinische Hilfe ein, und vorher wurden wir manchmal kostenlos behandelt. Ein Rechtsanwalt unserer Gemeinde hilft uns, aus einer nicht glücklichen Entscheidung der Wohnungsfrage herauszukommen.
– Das heißt, sie leben im Umkreis einer orthodoxen Gemeinde – und das rettet Sie?
In Russland gibt es so viel Trost, so viel Solidarität. Und trotz der Tatsache, dass wir nichts verdienen, sind unsere Kleider nicht abgetragen, und die Schuhe haben keine Löcher. Unser Leben ist in Göttliche Ökonomie eingetaucht, in Göttliche Vorsehung. Darum sind wir glücklich.
Mit dem Priester Thomas Dietz sprach Ludmila Bolótnova
19. November 2012
Deutsche Übersetzung: Ludmila Sokolova / Peter Trappe
[i] Das Interview mit dem Priester Thomas Dietz wurde zur freundlichen Veröffentlichung angeboten im Portal Pravoslavie.Ru seitens der Redaktion der Zeitung „Mir Boschii“ (Welt Gottes), in deren Nr. 16 es auch gedruckt werden sollte. Den Wünschen von Vr. Thomas folgend, veröffentlichen wir das erhaltene Material mit einigen Verbesserungen und Zusatzinformationen.
[ii] Im vorrevolutionären Russland eine geistliche Hymne der Nation (nicht übersetzt)
[iii] In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts bis 1917 wurden in Russland bis zu 700 Bruderschaften gegründet.