„Niedergang eines Reiches. Eine Byzantinische Lektion“ Text der literarischen Vorlage des Filmes

Am 30. Januar des Jahres 2008 strahlte der Telekanal „Russland“ den Dokumentar-film „Niedergang eines Reiches – Eine Byzantinische Lektion“ aus. Als Autor und Mo-derator trat Archimandrit Tychon vom Sretensky-Kloster (Schewkunow) auf, ein be-kannter Mann der Orthodoxie und Verleger. Der Film hat großes gesellschaftliches Interesse geweckt. Mehr noch, seine Auslegung des historischen byzantinischen Erbes hat sofort äußerst lebendige und scharfe Diskussionen ausgelöst. Dies alles erfolgt nicht zufällig. Sujet und Inhalt des Filmes erwiesen sich nicht nur als im Einklang mit dem jetzigen Zeitgeist, sondern auch als sehr innovativ. Die Geschichte des riesigen Byzanz ist – zu unserem großen Unglück – für die heutigen Bürger Russlands nur zu wenig bekannt. Dies ist umso bedauerlicher, da gerade unser Land im rechtlichen und gei-stigen Sinne Erbe dieses glänzenden orthodoxen Reiches ist, das vor fünfhundert Jahren gestürzt wurde.

Den Filmproduzenten ist das Wichtigste gelungen – ihren Mitbürgern zu erzählen vom Wesen dieser großen Erbschaft, welche zurecht unserem Volk und Staat zugehört. Diese Lehre beeindruckt, und ist im höchsten Grade aktuell.                    Sergej Semanow

 

Text der literarischen Vorlage des Filmes

(Zeitschriftenvariante):

 

„Niedergang eines Reiches. Eine Byzantinische Lektion“.

 

Im Jahre 1453 stürzte das Byzantinische Reich. Wie kam es dazu ?

Istanbul. Diese Stadt hieß einmal Konstantinopel, und noch vor sechshundert Jahren war sie, ohne große Übertreibung, Hauptstadt einer der größten Weltzivilisationen – des Byzantinischen Reiches.

Der Rechtsstaat, der für uns heute so selbstverständlich ist, wurde auf dem Funda-ment des Römischen Rechts gerade hier in Byzanz vor 1500 Jahren geschaffen. Das juristische System, das für alle Gesetzestypen in der Mehrheit der modernen Staaten als fundamentale Grundlage gilt, stellt eine kolossale Schöpfung der byzantinischen Juris-prudenz zur Zeit des Kaisers Justinians dar. Das System der Schul- und Hochschul-ausbildung entstand zuerst in Byzanz. Gerade hier, im fünften Jahrhundert, wurde die erste Universität gegründet. In Byzanz wurde das stabilste Finanzsystem in der Ge-schichte der Menschheit gegründet, welches praktisch ohne Veränderungen mehr als 1000 Jahre existierte. Die moderne Diplomatie mit ihren Basisprinzipien, Regeln, ihrer Etikette wurde hier in Byzanz sowohl geschaffen wie verfeinert. Ingenieurkunst und Architektur in Byzanz kannten nicht ihresgleichen: sogar noch heute beeindrucken die Meisterwerke byzantinischer Künstler, wie z.B. die Kuppel der Hagia Sophia in der Vollkommenheit ihrer technischen Ausführung.

Kein anderes Reich in der Menschheitsgeschichte überlebte so lange wie Byzanz, wel-ches 1123 Jahre existierte. Zum Vergleich: das große Rom stürzte 800 Jahre nach seiner Gründung ein, das Osmanische Sultanat nach 500, das Chinesische Reich Zin nach 300 Jahren, das Russländische Reich existierte 200, das Britische Empire 150, Österreich-Ungarn etwa 100 Jahre. Auf dem Territorium von Byzanz lebte zur Zeit der Blüte ein Sechstel der Weltbevölkerung. Das Reich dehnte sich von Gibraltar bis zum Euphrat und Arabien aus. Es schloss die Territorien des modernen Israel ein, die von Ägypten, Bulgarien, Serbien, Albanien, Tunesien, Algerien und Marokko, von Griechenland und der heutigen Türkei, sowie einen Teil von Italien, Spanien und Portugal. In Byzanz gab es etwa tausend Städte, fast so viele, wie im heutigen Russland.

Fabelhafte Reichtümer, die Schönheit und Erlesenheit der Hauptstadt des Reiches, Konstantinopel, erschütterten buchstäblich die europäischen Völker, die sich zur Zeit der Blüte von Byzanz im Zustand niederen Barbarentums befanden. Man kann sich leicht vorstellen – und auch die Geschichte erzählt uns davon – dass, als die groben und ungebildeten Skandinavier, Germanen, Franken, Angelsachsen (deren Hauptbeschäf-tigung in diesen Zeiten primitiver Raub war) aus einem Paris oder London mit einer Bevölkerung von wenigen Tausenden in die Megapolis kamen, in die Stadt gebildeter Bürger, Wissenschaftler, glänzend gekleideter Jugend, die sich an der Universität des Kaisers zusammendrängte, folgendes träumten: Ausrauben und Überfallen – Überfallen und Ausrauben. Als ihnen dies das erste Mal gelang und Heere von Europäern, die sich Kreuzfahrer nannten, 1204 – statt das Hl. Land zu befreien – verräterisch in Konstan-tinopel einbrachen und die schönste Stadt der Welt einnahmen, plünderten sie hernach die Schätze von Byzanz ununterbrochen 50 Jahre lang. Allein an Goldmünzen wurden Hunderte von Tonnen weggeführt. Und das zu einer Zeit, als das Jahresbudget der reichsten Länder Europas bei nicht mehr als 2 Tonnen Gold lag.

Gerade durch die unermesslichen Reichtümer Konstantinopels wurde das Monster des wucherischen Bankensystems der modernen Welt gefüttert. Jene kleine Stadt in Italien – Venedig – wurde zum Neu-York des XIII. Jahrhunderts. Hier wurden die Finanzschicksale der Völker entschieden. Anfangs brachte man eilends den größten Teil des Geraubten auf dem Meerweg nach Venedig und in die Lombardei (damals kam auch das Wort „Lombard“ auf). Wie die Pilze nach dem Regen sprossen die ersten europäischen Banken. Die weniger als die damaligen Venetianer „Geriebenen“, Deut-sche, Holländer und Engländer, schlossen sich etwas später an. Mit den nach Europa herausströmenden byzantischen Geldern und Schätzen begannen sie, eben jenen Kapi-talismus zu schaffen, welcher, mit seinem nie gestillten Gewinndurst, dem Wesen nach, die logische Fortsetzung der Hasarderie militärischen Raubes darstellt. Aus der Speku-lation mit Konstantinopels Reliquien erwuchsen primäre jüdische Kapitalien.

Unsere (russischen) Vorfahren, die in dieser Zeit – das muss gesagt werden – auch nicht gerade erlesene Bildung vorweisen konnten, unterlagen mehr als einmal der bar-barischen Verführung, auf Kosten der Kaiserstadt die unermesslichen Reichtümer frem-den Gutes anzueignen. Aber zu ihrer Ehre – und zu unserem Glück – verdunkelte der Durst nach militärischer Beute ihnen nicht das Wichtigste: die Russen begriffen, worin der größte Schatz von Byzanz bestand! Das waren nicht Gold, nicht teure Steine, nicht einmal Kunst und Wissenschaften. Der große Schatz von Byzanz war – Gott. Und nach-dem die Gesandten des Fürsten Wladimir alle bekannten Länder der damaligen Welt erforscht hatten, verstanden sie gerade hier, dass es eine reale Kommunion zwischen Gott und Menschen gibt, dass für uns eine lebendige Verbindung zur anderen Welt möglich ist. „Wir wussten nicht, wo wir uns befanden, ob im Himmel oder auf Erden“, berichteten unsere ergriffenen Vorfahren von ihrer Teilnahme an der Göttlichen Liturgie in der Hauptkirche des Reiches – der Hagia Sophia. Sie verstanden, was für ein Reichtum in Byzanz zu erlangen war. Und mit diesem Reichtum haben unsere Vor-fahren nicht Banken, nicht Kapital, nicht einmal Museen und Lombarden geschaffen. Sie haben die Rus`, Russland, als Geistige Erbin von Byzanz geschaffen.

Und wie wurde es möglich, dass dieser weltgeschichtlich größte, ungewöhnlich lebensfähige Staat ab einem bestimmten Moment begann, rasch Lebenskräfte zu ver-lieren ? Das Interessanteste ist, dass die Probleme, mit denen Byzanz zur Zeit seines Niedergangs zu kämpfen hatte – äußere Aggression, Naturkatastrophen, ökonomische und politische Krisen – gar nicht neu waren für diesen mehr als eintausendjährigen Staat, mit seinem erprobten Mechanismus der Lösung gefährlichster Situationen. Solche Prüfungen überwand das Land mehrmals mit Erfolg. Ja, es gab viele neidische Feinde, sowohl im Osten, als auch im Westen, es gab Erdbeben, die Pest, aber nicht sie haben  Byzanz besiegt. Alle Probleme konnten stets überwunden werden, solange die Byzan-tiner gegen sich selbst siegten.

Heute werden wir gerade über diesen inneren Feind sprechen, der aus den geistigen Tiefen der byzantinischen Gesellschaft entstand, der den Geist dieses großen Volkes vernichtet und aus ihm das schutzlose Opfer geschichtlicher Herausforderungen ge-macht hat, auf welche Byzanz bereits nicht mehr reagieren konnte.

Wir sind daran gewöhnt, zu denken, dass das Fundament des Wohlstands der Gesellschaft ihre Ökonomie wäre. Obwohl diese Worte „Ökonomie“ und „Wirtschafts-lehre“ byzantinischen Ursprungs sind, verliehen ihnen die Byzantiner selbst nie eine alles überragende Bedeutung. Das byzantinische finanzökonomische System überlebte in seiner Geschichte eine Menge schwerer Krisen, aber durch besonderes effiziente Produktion und Landwirtschaft wurde die Situation im Ganzen austariert. Es genügt hier zu sagen, dass während der tausend Jahre der ganze internationale Handel auf die Byzantinische Goldmünze gegründet war.

Das Problem, das Byzanz nicht lösen konnte, und welches letzten Endes seine Öko-nomie vernichtete, war der Verlust staatlicher Kontrolle über die Finanzen, ein kolos-saler, unkontrollierter Prozess des Kapitalabflusses nach Westen, in die Entwicklungs-länder Europas. Der Staat ließ seinen Händen die Hebel der Kontrolle über Handel und Produktion entgleiten, und verschleuderte schließlich wesentliche Handels- und ökono-mische Ressourcen an ausländische Unternehmer.

Dies ereignete sich auf folgende Weise: Eine der hauptsächlichen Finanzressourcen des Landes waren nicht Öl, wie heute, und nicht Gas, sondern Zollgebühren aus dem kolossalen internationalen Handel durch den Bosporus und die Dardanellen. Die By-zantiner, die sich früher immer nur auf ihre eigenen Kräfte bei der Führung des Landes und in wirtschaftlichen Fragen verließen, begannen, stürmisch zu diskutieren, und danach auch dementsprechend zu entscheiden, dass es vernünftiger wäre, den inter-nationalen Handel ausländischen Freunden zu überlassen, die unternehmerischer und bereitwilliger seien, sämtliche Kosten für die Einrichtung komplizierter Transport-ströme, den bewaffneten Schutz der Handelswege, den Ausbau neuer Häfen, für die Intensivierung sowie Entwicklung kommerzieller Aktivitäten zu übernehmen. Man lud dazu westliche Fachleute aus Genua und Venedig ein, die während einiger Jahr-hunderte im Handel mit Byzanz groß geworden waren, genehmigte ihnen zollfreien Handel, und beauftragte sie zusätzlich mit dem Schutz des Verkehrs auf den Meeren im Bereich des Reichsterritoriums.

Der Westen begann, Byzanz mit allen Mitteln in die damals noch im Keime steckende gesamteuropäische Handelsorganisation hineinzuziehen, nutzte dabei eine sehr schwierige Periode im Leben des Reiches – und erreichte seine Absicht: Kaiser Alexios Komnenos unterschrieb einen internationalen Handelsvertrag, genannt „Golde-ne Bulle“, zu fürs Land unvorteilhaften Bedingungen . In der Praxis war dieser Ver-trag ein Joch und nur für den Westen vorteilhaft.

Zeitweilig waren alle zufrieden: der Handel in Läden und Kaufhäusern hatte sich belebt. In der Stadt erschien ein vorher nie gesehener Überfluss von europäischen und asiatischen Waren… Aber all dies gab es nicht umsonst: innerhalb weniger Jahrzehnte verfiel im Land im rasenden Tempo die eigene Produktion und die Landwirtschaft.

Alle byzantinischen Unternehmer gingen Bankrott oder gerieten in Abhängigkeit vom Ausland. Als man sich plötzlich ernstlich eines anderen besann, war es schon zu spät. Der Vertrag, genannt „Goldene Bulle“, wurde zwar annulliert, und der Kaiser Andronikos versuchte, dem Staat die ins Ausland fließenden Gewinne zurückzuholen. Er konfiszierte alle ausländischen kommerziellen Unternehmungen, welche die letzten Ressourcen der Wirtschaft des Staates aussaugten. Das kam ihm und dem Reich teuer zu stehen. Er wurde grausam ermordet, und die Venezianische Republik, welche zu dieser Zeit die größte Finanzoligarchie darstellte, rekrutierte einen ganzen Kreuzzug, den sie statt ins Heilige Land zum Raub nach Konstantinopel schickte. Die Byzantiner, die bis dato im allgemeinen Kreuzfahrer als ihre Glaubensbrüder verstanden, waren derart unvorbereitet auf einen solch hinterlistigen Schlag, dass sie keinen angemessenen Widerstand organisiert hatten. 1204 belagerten die französischen, germanischen und italienischen Kontingente der westlichen Alliierten die Stadt Konstantinopel und er-stürmten sie.  Sie wurde erbarmungslos ausgeraubt und niedergebrannt.

Dabei deklarierten die Venezianer – das Bollwerk des damaligen freien Unterneh-mertums – im Namen der ganzen „westlichen Welt“, dass sie ja nur die mit Füßen getretene Gerechtigkeit wiederherstellen würden, nämlich die Rechte des freien inter-nationalen Handels, und vor allem, dass sie mit einem Regime kämpften, welches all-gemeine europäische Werte negiere. Genau ab diesem Augenblick wurde im Westen damit begonnen, ein Bild von Byzanz als des häretischen „Reiches des Bösen“ zu schaf-fen. In der Folge wurde dieses Bild, immer wenn man es brauchte, aus den ideo-logischen Arsenalen heraufbeschworen.

Obwohl sich Konstantinopel fünfzig Jahre später von den Kreuzfahrern befreite, konnte sich (das Reich) Byzanz von diesem Schlag nie mehr erholen. Und ausländische Kaufleute blieben für immer absolute Herren sowohl der Gesamtwirtschaft, wie auch des Binnenmarktes.

Das andere ungelöste Problem waren die Korruption und die Oligarchie. Der Kampf mit ihnen wurde permanent geführt und war lange Zeit durchaus effektiv. Man be-strafte zu weit gehende Beamte und deren Finanzmachenschaften. Man schickte sie ins Exil, und ihr Eigentum wurde zugunsten der Staatskasse komplett konfisziert. Aber zum Ende hin verfügte die regierende Macht nicht über ausreichende Entschlossenheit und Kräfte, diese Übel Schritt für Schritt zu unterbinden. Die Oligarchen schufen sich ganze Armeen unter dem Deckmantel von Unterstützern oder Schutzabteilungen, und stürzten den Staat in den Abgrund der Bürgerkriege.

Woher kam in Byzanz überhaupt die Oligarchie und warum wurde sie unlenkbar? Byzanz war stets ein streng zentralisierter bürokratischer Staat. Und das war in keinem Fall seine Schwäche, umgekehrt – seine historische Stärle. Jede Gefahr des Zusammen-wachsens (staatlicher) Macht mit privaten Interessen wurde hier schroff und entschlos-sen unterbunden. Aber ab einem bestimmten Moment, zur Zeit politischer und admini-strativer Reformen, kam die Versuchung, die alte und allzu unbeweglich scheinende bürokratische Maschine gegen eine effektivere und flexiblere umzutauschen, bei wel-cher die Rolle des Staates begrenzt wäre und sich lediglich auf die Kontrolle der for-malen Gerechtigkeit reduzierte. Kurz gesagt, der Staat verzichtete de facto freiwillig auf einen Teil seiner strategischen Monopolfunktionen und übergab jene in die Hände eines engen Kreises von Familien. Diese durch den Staat gezüchtete Neue Aristokratie blieb nicht lange unter der Kontrolle des bürokratischen Apparats, wie man es sich ausge-dacht hatte. Konfrontation wechselte fortwährend mit Erfolg, was zu einer sehr schwe-ren politischen Krise führte, die nur um den Preis unwiderruflicher Konzessionen zum Nutzen des Auslands überwinden werden konnte. Was danach kam, kennen wir schon. Die oligarchische Zersetzung des Staates dauerte an bis zur Einnahme Konstantinopels durch die Türken.

Apropos: bei dieser letzten türkischen Belagerung steuerten die Oligarchen nicht nur keinen Heller zum Schutz der Stadt bei, sondern raubten selbst noch die kargen Mittel, die in der Staatskasse verblieben waren. Als der junge Sultan Mehmet Konstantinopel eroberte, war er beeindruckt von den Reichtümern einiger seiner Bewohner und zu-gleich von dem völligen Fehlen von Mitteln bei den Beschützern der Stadt. Er ließ die reichsten Bürger der Stadt zu sich rufen und stellte ihnen die einfache Frage, warum sie nicht Geld für den Schutz der Stadt vor dem Feind gegeben hätten. „Wir haben es aufbewahrt für Eure Sultanische Hoheit“ – antworteten diese schmeichelnd. Mehmet befahl sogleich, sie allesamt grausamster Tortur zu übergeben: man schlug ihnen die Häupter ab und ihre Leiber wurden den Hunden vorgeworfen. Andere Oligarchen, die in den Westen flüchteten, in der Hoffnung, dort ihre Kapitalien zu retten, wurden er-barmungslos von ihren westlichen Freunden ausgeraubt und beschlossen ihr Leben in äußerster Armut.

Ein gewaltiges Problem des byzantinischen Staates zur Zeit seines Niedergangs be-stand im häufigen Wechsel politischer Richtungen, was bedeutet, dass der staatlichen Macht Stabilität und Kontinuität fehlte. Mit dem Wechsel des Kaisers wechselte nicht selten auf kardinale Weise die Richtung des Reichslebens. Das schwächte das Land ex-trem und erschöpfte sein Volk ganz und gar. Politische Stabilität ist ja eine der Haupt-bedingungen des starken Staates. Das war das Vermächtnis der großen Kaiser von By-zanz. Aber jenes Vermächtnis wurde verschmäht. Es war eine Zeit, in der die Kaiser durchschnittlich alle vier Jahre wechselten. Konnte unter solchen Bedingungen irgend-ein Aufschwung in Frage kommen, irgendeine Realisierung wahrhaft groß angelegter staatlicher Projekte, welche ja langjähriger fortlaufender Arbeit bedurften ?

Gewiss gab es in Byzanz auch sehr starke Kaiser. Ein solcher war, zum Beispiel, Basilius II., beiläufig gesagt, Taufvater unseres hl. Fürsten Wladimir. Er übernahm die Macht nach einer äußerst schweren Krise: das Land war faktisch gelähmt durch die Oligarchen. Basilius II. schuf in erster Linie eine strenge Vertikale der Macht, zer-schmetterte die separatistische Bewegung in den Grenzgebieten, unterdrückte die rebel-lischen Gouverneure und Oligarchen, die das Reich zersetzen wollten. Dann packte er die „Säuberung“ in der Regierung an, konfiszierte riesige Summen geraubten Geldes in die Staatskasse.

Durch harte Maßnahmen gelang es Basilius II., die Staatseinkünfte auf beispiellos hohe Summen zu steigern: zu seiner Zeit betrug das Jahreseinkommen des Reichs 90 Tonnen Gold. Vergleichsweise erreichte Russland ein solches Ausmaß des Staats-budgets erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts.

Basilius schwächte in besonderem Maße die damals regional mächtigen Oligarchen und Magnaten. Einfluss und Reichtum dieser lokalen Herrscher waren manchmal un-vergleichlich größer als der Machtbereich des offiziellen Herrschers. So lud einmal bei einem Kriegszug der kleinasiatische Magnat Eustaphios Maleinos demonstrativ das ganze Heer des Kaisers, mit ihm selbst an dessen Spitze, auf sein Gut zur Erholung ein, und unterstützte ohne Mühe die riesige Armee, bis sie sich gestärkt und Kräfte ge-sammelt hatte. Dieser Oligarch hoffte dann ernstlich auf das Schicksal des Staates Einfluss zu nehmen, begann Intrigen, und stellte Marionettenkandidaten für die höch-ste Macht auf. Dies sollte er jedoch büßen: sein ganzes Vermögen wurde konfisziert, und ihn selbst schickte man in das entlegenste Gefängnis des Reichs.

Nachdem der Kaiser die Vertikale der Macht im Lande wiedererrichtet hatte, hinter-ließ er seinem Nachfolger eine Art „Stabilisationsfonds“, derart riesig, dass diesem, nach Geschichtsschreiber Michael Psellos, neue Labyrinthe für den unterirdisch gela-gerten Staatsschatz gegraben werden mussten. Diese staatliche Reserve war in erster Linie für die Ausführung von Militärreformen vorgesehen, und für den Aufbau einer kampffähigen Berufsarmee. Aber die Erben von Basilius verzehrten, ohne Begabung, all jene Ersparnisse und verprassten sie.

Basilius hatte kein Glück (mit seinen Erben). Er war derart beschäftigt mit staatlichen Angelegenheiten, dass er versäumte, sich einen würdigen Nachfolger vorzubereiten, und schließlich folgte ihm sein eigener Bruder Konstantin VIII. auf den Thron. Dieser neue Kaiser fühlte sich mächtig, frei, unermesslich reich und widmete sich nicht Wer-ken, sondern eher begeisterten Träumereien über Werke und Ruhm, der den Ruhm seines Bruders in den Schatten stellen sollte. Das Ergebnis war recht traurig: unter der Ägide dieses purpurtragenden Phantasten kam der zynischen Führungselite sehr bald Gehorsam und Disziplin abhanden, welche ihr Basilius II. eingeschärft hatte, und diese versank, neu erstarkt, im Kampf um die Macht.

Obwohl die Oligarchen sehr schnell ihr Ziel erreichten, kam es ihnen teuer zu stehen: hatte noch Basilius II. Ungehorsam mit Konfiszierung oder, im äußersten Fall, mit Blendung bestraft, was im Mittelalter gewöhnlich war, so ging dann sein Nachfolger, der hysterische Konstantin, dazu über, in Ausbrüchen des Zornes die Hälfte der by-zantinischen Beamtenelite zu kastrieren.

Auch der Nachfolger erfüllte nicht die Hoffnungen. Die Vertikale der Zentralmacht begann einzustürzen. Das Endergebnis der neuen Konfrontation zwischen Clans und Eliten, der ständigen Umverteilung des Eigentums war notwendigerweise erbärmlich: schon nach 50 Jahren geriet das Reich an den Rand des Abgrunds.

Nebenbei gesagt brachte der enorme Stabilisationsfonds in den Händen unbegabter Herrscher nichts Gutes, sondern nur Unglück: die mühelos zugefallenen Gelder arbeite-ten plötzlich gegen den Staat. Sie demoralisierten und korrumpierten die Gesellschaft. Der byzantinische Geschichtsschreiber Michael Psellos spricht bitter davon, dass gerade wegen unvernünftiger Verwendung, aber mehr noch wegen des Raubs all dessen, was Basilius gespart hatte, das Reich krank wurde: “Der Körper des Imperiums schwoll an, einige Untertanen fütterte man fett mit Geld, andere sättigte man mit Rängen bis zum Hals, und verbrachte sein Leben in ungesunder,  ja tödlicher Weise“.

So wurde die Frage nach der Kontinuität der Macht für das Imperium zur Frage von Leben oder Tod: bleibt die Kontinuität der Macht erhalten, dann hat das Reich Zukunft, wenn nicht, dann kann es nur auf Zusammenbruch gefasst sein. Aber im Volk verstand man das oft nicht und verlangte zeitweilig neue und immer wieder neue Reformen. Hasardeure verschiedenster Art und geflüchtete Oligarchen spielten mit solchen Stimmungen. Gewöhnlich versteckten sie sich im Ausland und unterstützten von dort Intrigen, die das Ziel hatten, den nicht erwünschten Kaiser zu stürzen, die Macht ihres jeweiligen Günstlings zu sichern und das Eigentum neu zu verteilen…

Zum schwierigsten und heillosesten Problem des Landes wurde die Frage, die früher nie vor Byzanz stand: im Reich kam die nationale Frage auf.

Es verhält sich so, dass die nationale Frage während vieler Jahrhunderte in Byzanz nie jemals existierte. Als historische, gesetzliche Erben des Alten Rom, welches im 5. Jahrhundert vernichtet wurde, nannten sich die Bewohner von Byzanz Römer, Romäer. Im diesem riesigen Staat gab es statt Aufteilung in viele Nationalitäten e i n Glaubens-bekenntnis: die Orthodoxie. Die Byzantiner erfüllten buchstäblich die christliche Lehre über die neue Menschheit, die im Göttlichen Geist lebt, wo es „keinen Hellenen, keinen Juden, keinen Skythen“ gibt, wie Apostel Paulus schrieb. Und das machte das Land sicher vor all den vernichtenden Stürmen des Volkshasses. Es genügte für jeden Heiden oder Andersgläubigen, zur Orthodoxie überzutreten und seinen Glauben mit Taten zu bestätigen, und er wurde zum gleichberechtigten Mitglied der Gesellschaft.

Es gab zum Beispiel auf dem byzantinischen Thron fast so viele Armenier-Kaiser wie Griechen, es gab Menschen mit syrischen, arabischen, slawischen, germanischen Wur-zeln. Repräsentanten aller Völker des Reichs wurden ohne Unterschied höchste Staats-beamte. Hauptkriterium waren ihre berufliche Qualität und ihre Ergebenheit in den orthodoxen Glauben. All das gewährleistete den unvergleichlichen Kulturreichtum der byzantinischen Zivilisation.

Fremd für Byzantiner waren Menschen von anderer, nicht orthodoxer Moral, von an-derer, ihrer Kultur fremden Weltanschauung. So galten zum Beispiel die groben, un-gebildeten, ungestüm gierigen Westeuropäer der damaligen Zeit den Romäern für Bar-baren. Der Kaiser Konstantin Porphyrogenetos belehrte demgemäß seinen Sohn, der für sich eine Braut suchte: “Solange jedes Volk seine verschiedenen Bräuche, verschiedenen Gesetze und festen Satzungen hat, soll es Allianzen zur Vereinigung des Lebena inner-halb derselben (ebenso) verschließen wie (auch) ermöglichen“.

Um diesen Gedankengang des Kaisers richtig zu verstehen, darf man nicht ver-gessen, dass sein Urgroßvater ein Skandinavier, mit dem Namen Inger, der Großvater Sohn eines Armeniers und einer Slawin aus Mazedonien, seine Frau die Tochter eines Armeniers und einer Griechin, und die Schwiegertochter die Tochter des italienischen Königs waren. Seine eigene Enkelin Anna wurde Ehegattin des russischen Fürsten, des hl. Wladimir, sofort nach dessen Taufe…

Alles endete damit, dass die Völker des einst einheitlichen Byzanz begannen, sich zu befeinden. Der Westen unterließ nicht, die neuen Wirren zu nutzen: man fing tüchtig an, Serben und Bulgaren zu überzeugen, dass die Griechen über Jahrhunderte deren na-tionale Eigenart unterdrückten. Es wurden einige echte Revolutionen provoziert und schließlich beharrte der Westen darauf, mit Hilfe wirtschaftlicher und militärischer He-bel, dass Serben und Bulgaren von Byzanz zu lösen und dem geeinten lateinischen Europa zugeschlagen werden sollten. Diese krochen unterwürfig, denn ihnen wurde ja plötzlich bewusst : „Wir sind auch Europäer!“. Der Westen versprach ihnen Militär- und Finanzhilfe, betrog sie dann aber selbstredend, und warf sie zynisch auf die Straße vor die türkischen Horden. Verraten vom Westen, blieben die Balkanvölker für viele Jahrhunderte unter grausamstem türkischen Joch. Und Byzanz konnte nicht mehr helfen. Nationale Arroganz hatte seine äußerst schlimme Rolle für das Reich gespielt.

Zum großen Problem erwuchs der allmähliche Verlust realer Kontrolle über ferne Ge-

biete und Provinzen. Besonders scharf war die Kluft zwischen den Provinzen und der satten und reichen Hauptstadt Konstantinopel, welche in vielem auf Kosten armer Grenzgebiete lebte. Anfang des XIII. Jahrhunderts schrieb der byzantinische Schrift-steller Michael Choniatos mit bitterem Vorwurf gegenüber den Bewohnern der Haupt-stadt: „Fließen etwa nicht die Ströme aller Schätze in die Hauptstadt wie in ein Meer? Aber ihr wollt nicht aus euren Mauern und Toren herausschauen, wollt nicht auf die euch umgebenden Städte schauen, die von euch Gerechtigkeit erwarten; ihr schickt dorthin unablässig Steuerbeamte, mit tierischen Zähnen, um noch die letzten Überreste zu fressen. Ihr selbst aber bleibt bei euch zu Hause, der Ruhe ergeben und Reichtümer saugend“…

Das ganze politische, kulturelle und gesellschaftliche Leben ereignete sich wesentlich in Konstantinopel. Die Regierung wollte sich nicht eingestehen, dass eine aüsserst  ernste Diskrepanz erwuchs, und dass die Provinz, von der Hauptstadt vergessen, mehr und mehr bitter verarmte. So gab es in ihr stets schärfere Tendenzen der Fliehkraft.

Die Gouverneure ferner Provinzen spielten immer mehr ihr listiges Spiel. Aus der Provinz vereinnahmte Steuergelder wurden gewissenlos geplündert. Und halb so schlimm wäre es gewesen, wenn diese nur der persönlichen Bereicherung der Gouverneure und ihrer Helfershelfer gedient hätten. Doch schlimmer war, dass mit staatlichen Mitteln echte militärische Formationen aufgebaut wurden, unter dem Deckmantel von „Abteilungen zum Schutz der Rechtsordnung“. Und manchmal waren diese Heere kampfbereiter als die reguläre Armee.

Als der Staat schwach wurde, lösten sich die Provinzen von ihm. Der Staat schaute fast hilflos auf diesen Prozess. Doch schwelgten die meuterischen Gouverneure, als sie sich von der Macht des Zentrums befreiten, nicht allzu lange im Banne ihrer rosigen Hoffnungen. Zusammen mit ihrer unglückseligen Bevölkerung gerieten sie fast zeit-gleich unter die grausame Macht der Andersgläubigen. Hierbei wurde die Bevölkerung vernichtet oder versklavt, und „selbstständige“ Territorien mit Türken oder Persern be-siedelt.

Das demographische Problem war wohl das schwerste in Byzanz. Das Imperium wurde allmählich von fremden Völkern durchsetzt, die orthodoxe Stammbevölkerung unbeirrt verdrängt. Vor allen Augen ging dieser Wechsel des ethnischen Bestandes des Landes vor sich. Irgendwie war das ein unvermeidlicher Prozess: die Geburtenrate in Byzanz ging immer mehr zurück. Aber das war noch nicht das Schlimmste. So etwas gab es auch früher. Die Katastrophe lag darin, dass die Völker, die ins Imperium ka-men, nicht mehr zu Römäern wurden. Sie blieben auf Dauer fremd, aggressiv, feindlich. Die Neuankömmlinge sahen in Byzanz nicht ihre neue Heimat, sondern lediglich ihre potenzielle Beute, welche über kurz oder lang in ihre Hände fallen würde.

Das geschah auch schon deshalb, weil sich das Reich von der Erziehung des Volkes lossagte, um den zu Beginn der Renaissance auftretenden demagogischen Tendenzen zu gefallen, dass staatliche Ideologie Unterdrückung der Person nach sich ziehe. Doch ein Heiligtum wird nie leer sein. Als die Byzantiner sich freiwillig von ihrer tausend-jährigen ideologischen Funktion, das Volk (christlich) zu erziehen, distanzierten, über-ließen sie den Einfluss auf Seelen und Geister ihrer Landsleute nicht so sehr dem unab-hängigen und freien Denken, sondern vielmehr zielgerichteter Aggression, welche die Zerstörung der Grundlagen des Staates und Volkes ansteuerte.

Und gerade sie (die Byzantiner) hatten doch eine wunderbare, unvergleichliche Erfahrung! Die besten Herrscher des Imperiums benutzten sehr kundig ihr großes Erbe:

sehr reiche Kenntnisse in Verwaltung und Integration. Im Ergebnis waren sogar grausame Barbaren, die an der breiten christlichen Kultur teilnahmen, die verlässlich-sten Verbündeten, bekamen klingende Titel, riesige Ländereien, fanden sich in der Zahl höchster Staatsbeamten, kämpften an fernsten Grenzen für die Interessen des Reichs.

Was demographische Fragen und die ewigen Kopfschmerzen jedes Reichs betrifft – der Separatismus der Randgebiete – hinterließen die besten byzantinischen Kaiser ihren Nachfolgern ausgereifte Methoden zur Lösung dieser Probleme. Zum Beispiel mussten Bedingungen geschaffen werden für die massenhafte Übersiedlung von Bewohnern aus zentralen Gebieten in ferne Provinzen. Daraus ergab sich eine Explosion der Geburten-raten und schon in der  2. Generation außergewöhnliche Lebensenergie am neuen Ort.

Aber diese ganze reiche Erfahrung wurde grob verschmäht, verbrecherisch verhöhnt. um fremder Meinung zu gefallen, und schließlich ging sie unwiderruflich verloren.

Aber um welche Meinung ging es eigentlich? Welche Weltanschauungen waren plötzlich den Byzantinern so teuer geworden? Was konnte ihre Geister so beeinflussen, dass sie hintereinander derart selbstmörderische Fehler zu machen begannen.

Es ist kaum zu glauben, dass zunehmend eine so große Pietät und Abhängigkeit entstand gegenüber dem einstmals barbarischen Westen, welcher viele Jahrhunderte neidisch und gierig auf die Schätze von Byzanz schaute, und danach systematisch und kaltblütig durch seine allmähliche Zerstörung ein Vermögen erwarb.

Byzanz war ein besonderer Staat, verschieden sowohl vom Westen als auch vom Osten. Alle anerkannten diese Tatsache. Aber einige waren von ihr begeistert, andere hassten diese Eigenart, wiederum dritte hielten sie für lästig. Wie dem auch sei, die Verschiedenheit von Byzanz und der umliegenden Welt war eine objektive Realität.

Als Erstes können wir benennen (damit kann man beginnen), dass Byzanz das einzi-ge Land in der Welt war, das sich auf riesigem Raum von Europa bis Asien ausbreitete. Schon diese Geographie bestimmte in vielem seine Einzigartigkeit. Es ist sehr wichtig, dass Byzanz seiner Natur nach ein Nationalitätenimperium war, in welchem das Volk das Staatsgebilde empfand als mit höchsten persönlichen Werten ausgestattet. Das war vollkommen unbegreiflich für die westliche Welt, wo schon damals Individualismus und persönliche Willkür als heilige Prinzipien galten.

Sinn des Lebens und Seele von Byzanz war die Orthodoxie – das ganz und gar un-beschädigte Bekenntnis zum Christentum, in welchem prinzipiell ein Millennium hin-durch keinerlei Dogmen verändert wurden. Solch einen demonstrativen Konservatis-mus konnte der Westen nicht ertragen, nannte ihn undynamisch, dumm, begrenzt, und begann schließlich in düsterem Fanatismus zu verlangen, Byzanz solle sein ganzes Le-ben nach westlichem Muster modernisieren – in  erster Linie in religiös-geistiger, dann in intellektueller und materieller Hinsicht. Was Einzigartigkeit und Originalität von Byzanz angeht, sprach der Westen, trotz oft eindrucksvoller und leidenschaftlich be-wegter Liebe zu dieser Zivilisation, sein Verdikt: all dies muss vernichtet werden; wenn möglich, dann zusammen mit (dem Reich) Byzanz selbst und seine geistigen Erben.

Aber selbstverständlich wäre es absurd, zu sagen, dass der Westen an den Miss-erfolgen und am Niedergang von Byzanz schuld sei. Der Westen verfolgte nur seine Ziele, was ganz natürlich ist. Die historischen Niederlagen von Byzanz ereigneten sich immer dann, wenn die Byzantiner selbst ihre Grundprinzipien, auf denen das Reich ruhte, preisgaben. Diese erhabenen Prinzipien waren einfach und jedem Byzantiner von

Kind auf bekannt: Treue zu Gott und  Seinen ewigen Gesetzen, aufbewahrt in der Orthodoxen Kirche, und furchtloses Stützen auf eigene Traditionen und Kräfte.

Während vieler Jahrhunderte wussten die byzantinischen Kaiser, weise wie unkluge, erfolgreiche Herrscher sowie unbegabte Heeresführer, Heilige auf dem Thron und blutige Tyrannen, dass – wenn vor die unvermeidliche Notwendigkeit einer schick-salsträchtigen Wahl gestellt – der Gehorsam diesen zwei Prinzipien gegenüber Unter-pfand der Lebensfähigkeit ihres Reiches war.

In der Heilgen Schrift, welche jedem Byzantiner von Kind auf bekannt war, wurde hierüber ganz eindeutig gesagt: „Den Himmel und die Erde rufe ich heute als Zeugen gegen euch an. Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen“.

In Byzanz entstanden ab dem 13. Jahrhundert zwei Parteien. Die eine rief in erster Linie dazu auf, sich auf die eigenen inneren Kräfte zu stützen, bedingungslos an sie zu glauben, das kolossale Potential des eigenen Landes zu entwickeln. Sie war bereit, die westeuropäische Erfahrung selektiv anzunehmen, dies aber nach sorgsamer zeitlicher Erprobung, und nur in solchen Fällen, wo die Veränderungen die fundamentalen Grundsätze des Glaubens und der staatlichen Politik nicht anrührten. Die andere Partei – die prowestliche – deren Repräsentanten auf die zweifellose Tatsache hinwiesen, dass Europa sich immer erfolgreicher entwickelte, begann immer lauter zu deklarieren, By-zanz hätte sich als politische, kulturelle und religiöse Erscheinung historisch überlebt, und verlangte den gründlichen Umbau aller Institutionen des Staates nach dem Muster der westeuropäischen Länder.

Repräsentanten der prowestlichen Partei, die heimlich, aber noch öfter auch offen von europäischen Regierungen unterstützt wurden, errangen über die Traditionalisten des Imperiums einen unzweifelhaften Sieg. Unter ihrer Führung kamen eine Reihe der wichtigsten Reformen zustande, einschließlich ökonomischer, militärischer, politischer, und, letztendlich, ideologischer und religiöser. Alle diese Reformen endeten mit einem völligen Desaster und führten zu einer solchen geistigen und materiellen Zersetzung im Imperium, dass es gänzlich schutzlos blieb vor dem Andrang der Heere seines östlichen Nachbarn – des Osmanischen Sultanats.

Zuallererst fing die prowestliche Partei an, Geschichte, Kultur und Glauben ihres Landes neu zu bewerten. Jedoch statt heilsamer Kritik der Gesellschaft boten sie nur tödliche Selbsterniedrigung an. Alles Westliche wurde in den Himmel gehoben, das Eigene hingegen verachtet. Die Geschichte von Byzanz wurde entstellt, Glaube und Tradition verspottet, die Armee herabgewürdigt. Man fing an, Byzanz als Bedrohung der Welt hinzustellen.

Die reiche byzantinische Jugend studierte nicht mehr im eigenen Land, sie ging ins Ausland, um dort zu studieren. Die besten Talente der byzantinischen Wissenschaft migrierten nach Westen: der Staat hatte aufgehört, ihnen die gebührende Aufmerksam-keit zu schenken. Der Kaiser Theodor II. sagte voraus: „Die zurückgewiesene Wissen-schaft wird unser Feind sein und wird gegen uns losziehen. Sie wird uns entweder dem Tode weihen oder zu Barbaren machen. Ich schreibe dies, ergriffen von düsterer Schwermut“. Die Vorahnungen des Kaisers betrogen ihn nicht.

Nicht lange zuvor wurde eine Militärreform nach westlichem Vorbild durchgeführt. In Byzanz existierte ein durch Jahrhunderte erprobtes, obgleich nicht immer effektives System der Stratios-Landwehr – eine nationale reguläre Armee mit Rekrutenaushebung

der Männer ab dem Alter von 18 Jahren. Mit der Zeit erwuchsen in der byzantini-schen Armee ernstliche Veränderungen. Für das Heer des neuen Typs benötigte man große Kapitalinvestitionen. Jener besagte Reservefonds von Basilius II. war der Schaf-fung einer effektiven Armee zugedacht. Dieser Fonds aber, wie wir uns erinnern, wurde verprasst, und man gedachte, die Armee grundlegend zu verändern, sie gemäß der Berufsarmee im Westen umzubauen. Zu dieser Zeit waren aber die Geister der Byzantiner von westlichen Rittern bezaubert, die gepanzert waren in Harnisch und Rüstung – letzte Errungenschaften damaliger Verteidigungsindustrie. „Meine Byzanti-ner sehen aus wie Töpfe aus Lehm“, sprach verächtlich einer der Kaiser über sein Militär, „das westliche gleicht ‚Metallkesseln’ “. Kurz gesagt war das Ergebnis der Reform die Zerstörung der regulären Armee, aber dennoch wurde eine Berufsarmee nicht geschaffen. Schließlich nahm man Kurs auf einen Block mit dem Westen, im Rahmen neuer militär-politischer Allianz, aber de facto erwies sich alsbald, dass man in den kritischsten Kriegszeiten bei einer Berufsarmee Hilfe suchen musste, aber nun nicht bei der eigenen, sondern bei Söldnern… Und was eine Söldnerarmee ist, wie es um ihre Treue und Kriegsbereitschaft steht, dies lernten die Byzantiner allzugut aus bitterster Erfahrung. Bei dem Versuch, sich auf die Erfahrung des Westens zu stützen, wurde der Staat immer ineffektiver. Aber stur suchte er Rettung im Kopieren westlicher Muster.

Der letzte und schrecklichste Schlag war für Byzanz die kirchliche Union mit Rom. Formell bedeutete das die Unterordnung der Orthodoxen Kirche unter den römischen Papst, aus rein pragmatischen Interessen. Die nachfolgende äußere Aggression stellte das Land vor die Wahl: mit Gott und den eigenen Kräften zu rechnen, oder Jahr-hunderte alte Prinzipien, auf welche der Staat gegründet wurde, preiszugeben, aber dafür militärische und ökonomische Hilfe des lateinischen Westen zu erhoffen. Und diese Wahl wurde getroffen. 1274 entschied sich Michael Paläologos für ein funda-mentales Zugeständnis an den Westen. Zum ersten Mal in der Geschichte anerkannten Gesandte des byzantinischen Kaisers in Lyon die Priorität des römischen Papstes.

Die Vorteile, welche die Byzantiner durch die Aufgabe ideeller Positionen erlangten, waren äußerst dürftig. Die Pläne der westlichen Partei wurden nicht nur nicht ge-rechtfertigt, sie stürzten in sich zusammen. Die Allianz mit  Rom dauerte nicht lange. Als die Reformen, die der Westen erwartete, nicht eintrafen, exkommunizierte der nächstfolgende Papst seinen frisch gebackenen geistigen Sohn, den Kaiser Michael Palä-ologos und rief den Westen auf zum neuen Kreuzzug gegen Byzanz. Die zum Unia-tentum übergewechselten Orthodoxen wurden schlechte Katholiken genannt. Die Byzantiner sollten sich hinter ihre Ohren schreiben, dass der Westen ausschließlich und bedingungslos religiöse und politische Unterwerfung fordert. Unfehlbar sollte für die Byzantiner nicht nur der Papst werden, sondern der Westen selbst.

… Dies zeigt in etwa, wohin Byzanz die Entscheidung seiner Elite, höchste Ideale we-gen praktischer Vorteile zu opfern, geführt hat. Seine Seele wurde vernichtet: in diesem großen Volk, das der Welt grandiose Beispiele geistiger Höhen lehrte, herrschte nun Zank, schierer Zynismus. Ein russischer Pilger schrieb am Anfang des 14. Jahrhunderts: „Die Griechen sind die, die keine Liebe haben“.

Der rachsüchtige Hass des Westens gegenüber Byzanz und seinen Erben, für ihn selbst vollkommen unerklärlich, setzt sich auf tiefster ethnischer, quasi genetischer Ebene, so paradox es auch sein mag, bis heute fort. Ohne diese so verblüffende, aber unzweifelhafte Tatsache zu begreifen, riskieren wir, vieles nicht zu verstehen, nicht nur

 

 

in der lange zurückliegenden Geschichte, sondern auch in der Geschichte des 20. und sogar 21. Jahrhunderts.

 

Lesefassung (erstellt von Ludmila Sokolova und Peter Trappe)

 

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