„Kinder der Sonne – Die Narten. Das große Epos des Kaukasus“ hrsg. von André Sikojev

Dieses Buch stellt uralte Mythen vor, die im Kaukasus über Jahrtausende gesungen und weitererzählt wurden. An vielen Stellen wird man an altnordische oder griechische, an persische oder indische Sagen erinnert. Das kaukasische Epos, das auf skythische Götter und auf die Stämme der Alanen zurückgehen soll, ist ein erstaunliches Zeugnis für indoeuropäische Verwandtschaften in der Sagenwelt. Und es ist das Vermächtnis des kleinen ossetischen Volkes, in dessen Gedächtnis es die Zeiten überdauert hat.

Der Nartenzyklus ist eine Sammlung von Sagen und Mythen, die an das tragische Geschehen keltischer, griechischer oder auch germanischer Mythologie erinnern – mit märchenartigen Einflüssen aus verschiedenen Epochen. Die Narten selbst waren ein mystisches Volk aus dem Kaukasus, wahrscheinlich ein Teil der skythischen Kultur. (Vgl. EM 01-04 und EM 02-04).

André Sikojev schreibt: „Aus den Bergen des Kaukasus, so wurde uns überliefert, zogen einst die unter dem Morgenstern geborenen mythischen Heldenzwillinge Achsar und Achsartag zum Ufer des Meeres, einer Blutspur folgend. Ungesühnte Schuld ließ sie sich, nach der glücklichen Hochzeit des Jüngeren, gegenseitig erschlagen.“ (Siehe weiter unten, „Urismag, Sohn einer Nymphe…“). Mit diesen ganz im Epenstil gewählten Worten leitet André Sikojev seinen Versuch einer Deutung der Nartensaga ein. Der 1961 in Moskau als Sohn eines Osseten und einer Deutschen geborene Autor, Geistlicher der Russischen Orthodoxen Kirche, hat das Narten-Epos erstmals aus einer russischen Fassung, die es seit 1948 neben einer ossetischen gab, ins Deutsche übertragen.

Die Nartensagen entstanden im heutigen Siedlungsgebiet der Osseten

„Wer waren die Narten?“, fragt Sikojev, „die Helden jener über mehrere Menschheitsepochen überlieferten Sagen“. Er zitiert den französischen Wissenschaftler Georges Dumézil: „An den nördlichen Hängen der kaukasischen Kette, in den fruchtbaren oder sandigen Ebenen, die von Europa her an diese angrenzen, auf dem schmalen, mit üppiger Vegetation bedeckten Küstenstreifen, der die Berge vom Schwarzen Meer trennt, in den Engpässen und Schluchten, durch welche die Wasser des Kuban, des Terek und eine Vielzahl kleinerer Flüsse strömen, fand ein höchst interessantes Mosaik von Völkern der Alten Welt ihren Platz.“

Dort, im Zentrum des Gebirgsrückens, leben heute die Osseten, ein Volk von etwa 400.000 Seelen. Sie seien direkte Abkömmlinge der Alanen, führt Sikojev aus, und – über diese – die einzigen, heute noch existierenden Nachfahren der Skythen, „jenes Reiternomadenvolks aus der einst großen Gruppe der Indoiranier“. Die Nartensagen seien hier im Siedlungsgebiet der Osseten entstanden. Im gesamten nördlichen Kaukasus habe man sie einst erzählt und gesungen.

Die Vorfahren der Osseten lebten in Europa und in Asien

Eine Beschreibung der Alanen, ihres Aussehens und ihrer Verbreitung gibt der römische Geschichtsschreiber Ammianus Marcellinus im 4. Jh. n. Chr. „Sie verteilen sich“, so berichtete er, „über beide Erdteile (Europa und Asien). Wenn sie auch durch weite Räume getrennt sind, so haben sie sich doch im Laufe der Zeit unter einem Namen vereinigt und heißen alle zusammen Alanen wegen ihrer Sitten, ihrer wilden Lebensart und der gleichen Bewaffnung. Die Alanen sind fast alle schlanke und schöne Menschen mit hellbraunem Haar, furchterregend in der gemäßigten Wildheit ihrer Augen und schnell, wegen der Leichtigkeit ihrer Waffen.“

Vielleicht erstmals schon unter dem Druck der hunnischen Reiterscharen (Vgl. EM -03-05), aber vor allem später nach dem Ansturm der Mongolen (Vgl. EM 03-03) zogen sich die Alanen tief in die unzugänglichen Schluchten des Kaukasus zurück. Diese wilden Gebirgsgegenden, schreibt Sikojev, „wurden zur Heimat eines neuen Volkes – der alanischen Osseten.“

Urismag – Sohn einer Nymphe und eines Narten

Die zentrale Figur des zweiten der fünf in diesem Band vorgestellten Epenzyklen, der weise Held Urismag, stammte wie auch sein Bruder, der stahlbärtige Chamiz, aus der Verbindung seines Vaters Achsartag (dem Begründer eines der Nartengeschlechter) mit einer Meeresnymphe – der Tochter des Meergottes Donbettir.“

Dieser Achsartag war zusammen mit seinem Bruder Achsar der Blutspur eines Vogels gefolgt und als diese ins Meer führte, ihr auch dorthin nachgegangen. Achsar wartete am Meeresufer auf ihn. Die blutige Fährte führte Achsartag zu Dserassa, der Tochter des Meeresgottes Donbettir. Die Nymphe hatte in der Verwandlung eines Vogels im Garten der Narten einen Apfel stehlen wollen und war vom Pfeil Achsartags verwundet worden. Der junge Narte heilte sie mit ihrem eigenen Blut, das er unterwegs aufgesammelt hatte, indem er es auf ihre Wunde legte. Das Mädchen wurde augenblicklich gesund und heiratete Achsartag. Als sich beide nach einem Jahr auf den Weg zurück ins Nartenreich von Achsartags Vater machten, weil Dserassa ein Kind erwartete, brachte Achsartag aus Eifersucht seinen wartenden Bruder und schließlich auch sich selbst um. Die schwangere Dscherassa brachte schließlich als Witwe die Zwillinge Urismag und Chamiz Welt.

Die Zwillinge waren wie alle Narten selber von mehrfacher Menschengröße und kämpften gegen Riesen und Zyklopen. Nach ossetischem Glauben wohnten die Narten auf den Gipfeln der Kaukasusberge. Man sprach ihnen Eigenschaften zu, wie ungezügelten Zorn, große Tapferkeit, List und Verachtung gegen alles Weiche.

Erinnerungen an nordische Götter und indische Sagen

Die Pferde der Narten vermochten wie diejenigen Wotans und seiner wilden Jagd durch die Lüfte zu reiten. Und wen erinnern nicht jene nartischen Gottheiten wie der Himmelsschmied Kurdalagon , der Donnergott Uazilla und Sapha, der Schirmherr des heimischen Herdes an nordische Sagen und Mythen. Die Auseinandersetzungen der nartischen Helden mit ihrem Gott vergleicht Sikojev auch mit den Kämpfen in der serbischen Sage vom Sonnenraub und mit dem Kampf Thors gegen die Midgardschlange in den nordischen Sagen.

Im Mongolischen heißt „narta“ Sonne. Ausgerechnet die ärgsten Feine der alanischen Osseten haben damit den sagenhaften Geschlechtern der Narten ihren Namen gegeben. Von „narta“ abgeleitet wurden sie „narartar“ genannt, die „Kinder der Sonne“. Daraus ergibt sich auch der Titel für die aufsehenerregende Epensammlung aus dem Kaukasus.

Die epischen Zyklen, die von den Narten künden, wurden von den Geguakos, den alten Sängern vorgetragen, die „gleich den keltischen Druiden auf diese Weise Legenden und Sitten, ‚Geschichte‘ und ‚Gesetz‘ aufbewahrten“, wie Dumézil schreibt.

Sikojev berichtet über die Geguakos: „Zu den großen Festen der Bergbewohner wurden sie geladen; sie spielten auf dem zwölfsaitigen, harfenartigen Fandir, sangen zur Feier der Personen oder trugen die nartischen Sagen vor.“

Wie der alternde Held Urismag versuchte zu sterben und erneut zum Helden wurde

Über viele Jahrhunderte wurden diese Sagen und Mythen nur mündlich weitergegeben. Das erklärt laut Sikojev auch, „weshalb der erzählerische Stoff der einzelnen Sagen keinem eindimensionalen Zusammenhang folgt, weshalb die Narten an mehreren Stellen des Buches in unterschiedlichem Alter agieren oder wie […] Urismag scheinbar nie endgültig sterben.“

Von ihm wird berichtet, wie er als alter Held selbst versucht habe, der Welt zu entsagen und auch dabei eine neuerliche Heldentat vollbrachte: „Mit den Jahren wurde Urismag immer hinfälliger, seine gewaltige Kraft war erschüttert und es zog ihn nicht mehr auf Kriegsmärsche oder zur Jagd. Die nartische Jugend fragte nicht mehr bei ihm um Rat und es gab sogar solche, die ihn zu verspotten begannen.“

Eines Tages sprach der alte Held: „Oh, wenn ich doch nur noch ein einziges Mal losziehen könnte, mein Schwert an den feindlichen Adern zu erproben, den Narten helfend den Sieg zu erkämpfen. Doch ehe es mir bestimmt ist, ruhlos mein Leben zu beenden, so wäre es besser, den Tag meines Todes selbst zu bestimmen.“

Er bat, „eine große und feste Truhe“ zu schmieden, ihn hineinzulegen und im Meer zu versenken. Nach langem Zögern erfüllte man ihm den Wunsch. Die Narten warfen die Truhe mit Urismag ins Schwarze Meer.

„Ohne meinen grauhaarigen Kopf werden euch noch die Elstern in ihre Nester tragen“

„Doch der Meeresgott verschlang die Truhe nicht. Vorsichtig hoben die Wellen sie hoch und trugen sie davon.“ So gelangte der Alte zum Erzfeind der Narten, dem grausamen Schwarzmeerfürsten Aldar, der ihn in den Turm werfen ließ, wo Urismag verfaulen sollte. Doch mit einer List gelang es dem Alten, sich in das Vertrauen Aldars einzuschleichen. Urismag bot an, zwei Boten zu seinem Volk der Narten zu senden, damit ein gewaltiges Lösegeld in Form riesiger Herden an den Schwarzmeerfürsten geschickt würde. Der habgierige Aldar ließ sich darauf ein. Er stieg mit Urismag auf den Turm und erwartete die Herden der Narten. Doch der listenreiche Urismag hatte den Boten einen Text aufgegeben, den die Narten als Zeichen zum Angriff mit ihrem gesamten Heer verstanden. Die Mannen Aldars gingen der herannahenden Staubwolke unbewaffnet entgegen, um die Tiere nicht zu erschrecken. Das hatte ihnen Urismag eingeredet. Die Narten machten sie samt und sonders nieder. Urismag stürzte den Erzfeind Aldar vom Turm hinab zu Tode.

„Als die Narten Urismag lebend antrafen, da war ihre Freude groß“, heißt es in dem Epos und Urismag spottete: „Ich sehe schon, wenn ihr ohne meinen grauhaarigen Kopf bleibt, werden euch noch die Elstern in ihre Nester tragen.“

Reich mit Schätzen beladen kehrten die Narten heim. „So half der weise Urismag auch noch im hohen Alter seinem tapferen Volk“, heißt es in dem Epenzyklus von Urismags letztem Abenteuer.

Der französische Wissenschaftler Dumézil würdigt die Nartensagen zu Recht als ein bedeutendes Stück eurasischer Literatur. Mit dem Nartenepos sei eine ehrwürdige Mythologie wiederentdeckt worden, die genau so wichtig sei „wie die Schwesternmythologien der Perser und Inder. Ebenso wie die gallischen Erzählungen oder das irische Epos des Mittelalters es […] erlaubt haben, die keltischen Mythen zu rekonstruieren, gestatten es die Erzählungen über die Narten, den Schatten einer skythischen Gottheit zu beschwören.“

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Rezension zu: „Kinder der Sonne. Die Narten. Das große Epos des Kaukasus“ hrsg. von André Sikojev, Sprachwissenschaftler, Journalist, Theologe, Filmproduzent („Deep Blue“). Diederichs Gelbe Reihe, Hugendubel Verlag, München 2005, 351 Seiten, ISBN 3-720-52629-1.

Hans Wagner

http://www.eurasischer-verlag.de/artikel/?thema=Kaukasus&artikelID=20050418

 

 

 

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