Als russisch-orthodoxer Priester hat André Sikojev seine “Lebenserfüllung” gefunden. Und mit seiner Firma Greenlight Media produziert er Erfolgsfilme wie “Unsere Erde”, der gerade angelaufen ist.
Wer so viel liest wie André Sikojev, der hat nicht das eine Lieblingsbuch. Carl Zuckmayers Autobiografie “Als wärs ein Stück von mir” liebt Sikojev jedoch besonders, “ein Buch, das man im Leben immer wieder zum Nach-vorne-Schauen brauchen kann”. Es gibt zwei Punkte in Sikojevs Leben, an denen das die einzige Richtung war, in die er schauen konnte. Der Blick zurück war versperrt: von der Berliner Mauer und vom System DDR, mit dem es für Sikojev keine Versöhnung gibt. “Die DDR ist verdientermaßen untergegangen”, sagt er.
Zu Beginn des zweiten Treffens in seinem schicken Büro in Mitte zieht Sikojev ein schwarzes Notizbüchlein heraus. Entlang der Notizen beginnt er seine Geschichte noch mal zu erzählen – diesmal streng chronologisch, um sich nicht wieder zwischen Jahren und Welten zu verlaufen.
Sikojevs erste Welt hätte ihn vergangene Woche um ein Haar in die Talkshow von Johannes B. Kerner geführt. Er ist heilfroh, dass Mark Linfield und Alastair Fothergill dann doch ohne ihn nach Hamburg gefahren sind. Die beiden sind die Regisseure des Monumentalwerks “Unsere Erde”, Sikojev und seine Firma Greenlight Media sind Koproduzenten der Naturdokumentation, die seit Donnerstag in den deutschen Kinos läuft.
Auch nach 15 Jahren als Filmproduzent fremdelt Sikojev immer noch mit dem Showbusiness. “Ich war bestimmt schon über 30-mal in Cannes auf den Messen und Festivals”, sagt er, “mit Herzblut war ich aber immer nur auf der Frankfurter Buchmesse.” Es ist deswegen auch kein Zufall, dass Sikojev übers Wort zum Bild kam. Die erste Greenlight-Produktion überhaupt war die Zeichentrickserie “Simsalagrimm”, eine Märchensendung “für Kinder, die keine Großeltern und Eltern mehr haben, die ihnen Grimms Märchen vorlesen”. Das Konzept zur ersten Staffel hat Sikojev, der sich eher als Autor sieht, selbst geschrieben und mit seinen Partnern produziert. Bei der zweiten Staffel, die 2009 ausgestrahlt werden soll, lässt er andere machen.
Denn eigentlich will Sikojev sich zugunsten der zweiten Welt besser früher als später aus der ersten zurückziehen. Seit 2006 ist er nur noch Aufsichtsratsvorsitzender von Greenlight Media. Doch so einfach ist das nicht, denn Sikojevs zweite Welt ist “die Synthese all meiner Interessen”, sagt er, “meine Lebenserfüllung”. André Sikojev ist seit 1991 russischer-orthodoxer Geistlicher und betreut als Priester eine eigene Gemeinde in Charlottenburg – ein Nebenjob als Hauptberufung.
Als Sikojev am 25. März 1961 in Moskau geboren wird, wo sich seine deutsche Mutter und sein ossetischer Vater beim Studium über den Weg gelaufen sind, liegt dieses Berufsziel mindestens so fern wie Berlin, die Stadt, in deren Ostteil die junge Familie wenig später, kurz vor dem Mauerbau, übersiedeln wird.
Beide Eltern sind Ingenieure, weder der Vater noch die Mutter ist gläubig. Der einzige christliche Mensch in der Familie, erinnert sich Sikojev, sei die Schwester seiner deutschen Großmutter gewesen, die er sehr geliebt und die auch ihn sehr geliebt habe – trotz allem: “Ihr Mann ist in einem russischen Kriegsgefangenenlager bei Smolensk verhungert, und ich habe mich immer gefragt, warum sie ausgerechnet den einzigen russischen Jungen im Familienkreis besonders in ihr Herz geschlossen hat.”
Diese alte Dame sollte nicht die einzige Person in Sikojevs Leben bleiben, deren Integrität er viel zu verdanken hat. Als Sikojev mit 16, 17 anfängt, von Freunden geliehene regimefeindliche Literatur zu lesen und die Stasi auf ihn aufmerksam wird, gelingt es ihr weder in seiner Schulklasse noch später in seinem großen Freundeskreis, einen Spitzel zu rekrutieren. “Kein Einziger hat sich zum IM machen lassen”, sagt Sikojev, als könnte er immer noch nicht glauben, was er nach der Wende in seiner “schönen, dicken Stasi-Akte” gelesen hat. “Genauso wenig wie du 1941 deine jüdischen Nachbarn verraten musstest, warst du 1981 in der DDR gezwungen, für die Stasi zu arbeiten.”
Nach dem Abitur 1979, das Sikojev trotz mehrerer Versuche, ihn wegen seiner oppositionellen Umtriebe der Schule zu verweisen, besteht, verweigert er den für DDR-Abiturienten mit akademischen Ambitionen fast obligatorischen dreijährigen Armeedienst. Sikojev will Medizin studieren und landet stattdessen in einem Strafregiment. “Wer vorher noch Illusionen hatte über das Land, in dem er lebte, hatte danach keine mehr.”
Die NVA sei nichts anderes als “das perfekteste Unterdrückungs- und Erziehungsinstrument der DDR” gewesen, sagt Sikojev. “Ich bin fest davon überzeugt, dass in der NVA mehr Leute zu Schaden oder ums Leben gekommen sind als an der Mauer oder im gesamten Gefängnissystem der DDR, das ja auch nicht ohne war.” Als man Sikojev nach konkreten Erlebnissen fragt, blockt er ab, um später doch noch wortkarg von “der Hölle, die da aufging” zu sprechen, von Hunger, Kälte, Vergewaltigungen und Erschießungen. Nach 15 Monaten verletzt sich Sikojev 1981 beim Absprung aus einem Hubschrauber am Knie und darf zurück nach Hause, wo er allerdings nie wieder heimisch wird. Das war der erste Punkt, von dem aus es kein Zurück gab.
“Als ich aus der Armee rauskam, war klar, dass ich kein normales Studenten- und Bürgerleben mehr führen kann”, sagt Sikojev. “Ich war für die DDR endgültig unbrauchbar geworden.” Er beginnt, seine Erlebnisse in Erzählungen, Gedichten und einem Roman zu verarbeiten, und veröffentlicht auf Vermittlung westdeutscher Freunde einige Artikel im Spiegel. “Die haben mich natürlich nicht aufgrund meines journalistischen Niveaus gedruckt”, räumt Sikojev ein, “sondern weil es interessante Berichte über die Situation von Jugendlichen in der DDR und das Denken einer Generation waren.” Einer Generation, die mit den Füßen scharrte. In jenen Jahren schreibt Sikojev sein erstes Buch, eine Übersetzung des ältesten europäischen Epos, der kaukasischen “Narten”.
Ausgerechnet die Schlüsselfrage, wann und wie genau er zum Glauben fand, kann Sikojev nicht mehr mit Bestimmtheit beantworten. Es müsse während der Armeezeit gewesen sein, als er angefangen habe, die Bibel zu lesen: “Ich war bereit, meine ganze Existenz in eine Frage zu schmeißen: Wofür lohnt es sich zu leben?” 1983 lässt sich Sikojev evangelisch taufen und ist mit seinen Gedanken schon längst im Westen.
Am 10. Februar 1984 folgt er ihnen und flüchtet mit zwei Freunden über die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ostberlin. Es war eine der ersten Botschaftsbesetzungen. Die Stasi sei ihm gegenüber langsam aggressiv geworden, erinnert sich Sikojev, habe Stromfallen an die Lichtschalter seiner Wohnung in Prenzlauer Berg gebastelt. Nachdem er und seine Freunde sich zu Stillschweigen verpflichtet haben, dürfen sie sogar noch einige Habseligkeiten von zu Hause holen und ausreisen. “Da stand ich am Bahnhof Zoo und hab ein neues Leben begonnen – was relativ unspektakulär war.”
Und das war der zweite Punkt.
Seine Tage verbringt Sikojev zunächst mit Behördengängen, seine Nächte mit Steaks, Rotwein und Büchern in der Wohnung eines Freundes, der ihn aufnimmt. Sikojev beginnt Theologie zu studieren, schlägt sich mit den Sprachstudien herum und entdeckt die orthodoxen Kirchenväter für sich. 1986 wechselt er ans Münchner Institut für Orthodoxe Theologie, weil er mit dem Protestantismus durch ist. “Erhebliche kanonische und theologische Blindstellen” attestiert er ihm und vermisst eine “verbindliche Tradition”.
Nicht alle waren mit dem Umzug und der Studienwahl so glücklich wie Sikojev selbst. Ein Freund, der ARD-Journalist Peter Merseburger, sei entsetzt darüber gewesen, dass es ihn in das Land von Franz Josef Strauß zog, wo er bis zu seiner Rückkehr nach Berlin im Jahr 2000 auch bleiben sollte, erzählt Sikojev. Auch seine Studienwahl hat Merseburger nicht behagt. ” ‘Du musst doch an die Filmhochschule’, hat er zu mir gesagt. Dabei war das das Letzte, was mich damals interessiert hat. Ich weiß beim besten Willen nicht, wie mein Freund auf diese Idee gekommen ist.”
Mittlerweile hat Sikojev mit seinem Team weltweit erfolgreiche Kinofilme, Dokumentationen und Zeichentrickserien produziert. Doch entscheidend für ihn ist seine Verantwortung als Geistlicher. Dass unter den Filmen Naturdokumentationen wie “Deep Blue” und “Unsere Erde” sind, ist kein Zufall: “Gottes Schöpfung ist von so immenser und existenzieller Bedeutung für den Menschen, dass wir alles daransetzen müssen, über unsere Filme auch diejenigen wieder an die Natur heranzuführen, die damit überhaupt nichts mehr anzufangen wissen”, führt Sikojev aus. “Und man kann nur schützen, was man liebt.”
Nicht nur zum Umweltschutz, auch zu Schäubles rigider Sicherheitspolitik hat Sikojev eine klare Meinung. Terroranschläge und ihre Opfer seien doch keine Legitimation dafür, das Rad der Geschichte zurückzudrehen und den totalen Überwachungsstaat zu propagieren. “Das ist der Preis der Freiheit. Wer nicht bereit ist, den zu zahlen, soll halt in die USA auswandern.”
Sikojev kann gut damit leben, unpopuläre Ansichten zu vertreten. Möglich also, dass aus ihm in den nächsten Jahren noch ein Priester wird, der in die Politik geht. Das wäre dann die dritte Welt in seinem Leben. Schade, dass es in Berlin keine CSU gibt, sagt er mit leichter Ironie: “Die sind in Bayern enorm modern und pragmatisch.” Nur eine Partei kommt für ihn nicht in Frage, die FDP, die ihm der Wahl-O-Mat” angedient hat – “wie entsetzlich”. Die einzige Wahlempfehlung, auf die André Sikojev etwas gibt, ist ohnehin die für ein gutes Buch.
DAVID DENK
http://www.taz.de/1/berlin/artikel/1/die-zwei-welten-des-andre-sikojev/