Erzbischof Mark begann seinen Vortrag zum Thema “Liturgisches Leben in Jerusalem – in Vergangenheit und Gegenwart” indem er seine Überzeugung äußerte, die Entwicklung der gottesdienstlichen Ordnung gehe weiter und werde bis zur zweiten Wiederkunft Christi weiter andauern, insofern als der Christ in der Welt lebt und mit dieser Welt leben muß, ohne jedoch von dieser Welt zu sein.
Das Typikon (Gottesdienstordnung) der Jerusalemer Kirche, der Mutter aller Kirchen, bildete sich in bedeutendem Maß unter dem Einfluß der gottesdienstlichen Praxis der großen monastischen Siedlungen heraus, die die Heilige Stadt schon in den frühchristlichen Jahrhunderten umgaben. Dieses Typikon zeigte sich trotz aller äußeren Einmischungen, durch die sie einige Veränderungen erfuhr, im Wesentlichen erstaunlich beständig. Es sind Beschreibungen der Werktags- und Festtagsgottesdienste erhalten geblieben, die im vierten Jahrhundert von der spanischen Pilgerin Aetheria (Egeria) verfaßt wurden und interessante Beobachtungen zu den damaligen Gottesdiensten enthalten. Ausführlich auf die Beschreibungen der werktäglichen Gottesdienste und liturgischen Besonderheiten der großen kirchlichen Feste eingehend, unterstrich Vladyka, daß sowohl die Werktags- als auch die Festtagsgottesdienste in Jerusalem auf zwei große Heiligtümer ausgerichtet waren: das Grab des Herrn und Golgatha. Es ist wichtig, das bei der Betrachtung unseres heutigen Gottesdienstes im Blick zu haben, denn in ihm spiegelt sich ungeachtet der weiten räumlichen Entfernung von Jerusalem die Anwesenheit Golgothas und des Herrengrabes, wie die Hörer schon zuvor im Vortrag Vr. Nikolai Artemoffs über die Symbolik der Liturgie erfahren konnten. Der Festgottesdienst in Jerusalem ist natürlich mit denjenigen Orten verbunden, die Zeugen der einen oder anderen evangelischen Ereignisse waren. So begann beispielsweise der weihnachtliche Gottesdienst am Vorabend von Weihnachten auf Golgatha, alle begaben sich auf einem Kreuzweg zum Grab (so vollzog sich der Abendgottesdienst), dann zogen sie aus der großen Kirche heraus und gingen nach Bethlehem, wo der Morgengottesdienst stattfand, und kehrten wiederum auf einem Kreuzweg unter Gesängen nach Jerusalem zurück. Die Liturgie fing dann auf Golgatha an und endete am Herrengrab. Priester, die ständig in Jerusalem lebten, blieben und zelebrierten die Liturgie dort. Ungeachtet der Bedeutung Bethlehems in dieser weihnachtlichen Nacht, wurde die Liturgie allerdings nicht dorthin verlegt: Der rangälteste Bischof vollzog sie in Jerusalem – das Herrengrab blieb das gottesdienstliche Zentrum des Gottesdienstes. In unserer Zeit ist es umgekehrt: Der Patriarch von Jerusalem feiert die Weihnachtsliturgie in Bethlehem, und einer der Bischöfen am Grab des Herrn.
Viele Gottesdienste im Laufe der großen und heiligen Woche beinhalteten eine Evangelienlesung an den Orten der Ereignisse, von denen die entsprechende Evangelienerzählung berichtet. So feierte man zum Beispiel einen Gottesdienst, den wir “die 12 Evangelien” nennen. Im heutigen Gottesdienst sind als Spuren dieser Praxis noch die Antiphone zwischen den Evangelienlesungen erhalten, die während des Umzugs des Gottesdienstes von einem Ort einer evangelischen Begebenheit zum anderen gesungen wurden, damit der Verlauf des Gottesdienstes nicht durch Schweigen unterbrochen würde. Eine ähnliche Rolle spielten die auch in den heutigen Gottesdiensten bewahrten langen Parömien (Lesungen aus dem Alten Testament) im Abendamt vor der Liturgie des Heiligen und Großen Samstags, während derer die Katechumenen getauft wurden (einer bis heute beibehaltenen Praxis).
Obwohl die Jerusalemer Satzung im Vergleich mit dem alten mönchischen Typikon aus der Zeit der Wüstenväter bereits beträchtlich dem weltlichen Leben angepaßt ist, haben die Mönche und Nonnen damals wie heute eine große Bedeutung im gottesdienstlichen Zyklus – in der Regel leiten sie bis zum heutigen Tag Gesang und Lesung im Gottesdienst. Auch heute werden alle gottesdienstlichen Handlungen, die auf Golgatha und am Herrengrab stattfinden, von Mönchen der Bruderschaft des Heiligen Grabes versehen. Die Bruderschaft des Heiligen Grabes wurde jahrhundertelang überwiegend durch Griechen ergänzt, die in Jerusalem und Umgebung lebten. Zu unserer Zeit hat sich die griechische Bevölkerung so sehr verringert, daß es fast keine solchen jungen Leute mehr gibt, und der Nachwuchs zum Erhalt der Bruderschaft kommt hauptsächlich aus Griechenland.
Auf dem Territorium des Jerusalemer Patriarchats gibt es nur noch eine Landeskirche, die eine so große Anzahl von Mönchen und Nonnen hat, nämlich die Russische. Die Bruderschaft des Heiligen Grabes hat weniger als hundert Mönche. In unseren zwei Nonnenklöstern – in Gethsemane und auf dem Ölberg – leben 100 Nonnen, weitere etwa zwanzig Mönche der ROKA leben im Heiligen Land an verschiedenen Orten; das Moskauer Patriarchat hat etwas weniger Mönche und Nonnen. Es ist ein großer Vorteil für unsere Pilger, daß wir Klöster haben, wo wir nach unseren eigenen Traditionen beten können. Unsere Mönche und Nonnen nehmen an vielen Gottesdiensten in der Heiligen Stadt teil – je nach Kraft und Segen. Zu jedem Fest, das sich auf irgend ein Ereignis in Jerusalem selbst oder in seiner Umgebung bezieht, gehen oder fahren unsere Mönche und Nonnen, um zusammen mit den griechischen Mönchen und Nonnen an den Gottesdiensten teilzunehmen, doch zur Liturgie kehren sie meist (mit seltenen Ausnahmen) in die eigenen Klöster zurück. Das heißt, unsere Nonnen und Mönche nehmen an allen Ereignissen der Ortskirche so teil, wie es von alters her dort gehandhabt wurde.
So wird einerseits eine enge und für uns äußerst wichtige Verbindung zwischen denen, die im Heiligen Land ein monastisches Leben führen, und uns deutlich, und andererseits unsere enge Verbindung gemäß dem Typikon und der Überlieferung, die ein Erbe der jahrhundertelang im Heiligen Land eifernden früheren Asketen ist, mit der Heiligen Stadt, ihren Heiligtümern und der Mutter aller Kirchen – der Jerusalemer Kirche.