Die Russische Orthodoxe Kirche zählt heute weltweit mehr als 100 Millionen Gläubige. Ihr höchstes Leitungsorgan ist das Bischofskonzil. Das Oberhaupt der ROK ist der Patriarch von Moskau und Ganz Russland (von 1991 – Alexij II., seit 1. Februar 2009 Kyrill). Die Russische Kirche vereint heute sowohl autonome Teilkirchen (Weißrussland, Ukraine, Japan) als auch seit 2007 die Russische Orthodoxe Kirche im Ausland. Zu dieser gehört auch die Diözese des Orthodoxen Bischofs von Berlin und Deutschland. Sie wird seit mehr als drei Jahrzehnten geleitet von Erzbischof Mark (Arndt). Diese Diözese repräsentiert die älteste orthodoxe Kirchen-Ordnung auf deutschem Boden. Sie existiert seit dem 18. Jahrhundert.
Neuere Vorgeschichte
Nach dem 1. Weltkrieg und der Revolution von 1917 lebten mehr als 200.000 Russen – viele von Ihnen durch Flucht und Emigration enteignet und verarmt – in Berlin. Zu ihnen gehörten auch Mitglieder der aristokratischen Elite, die dem sowjetisch-atheistischen Regime entronnen war, aber auch Offiziere, Lehrer, Ingenieure, Schriftsteller und Wissenschaftler. Eine kleine aber aktive orthodoxe Gemeinde wirkte zunächst in der Kapelle der Russischen Botschaft. Sie wurde von dort 1923 durch den neuen sowjetischen Gesandten vertrieben und verzog in die Nachodstraße 10 ins Mariannenhaus. In diesem Gebäude wurde 1925 vom späteren Bischof Tychon (Timofej Ljaschtschenko, 1875-1945) kurzfristig eine kleine Kapelle eingerichtet, zu Ehren des Hl. Vladimir von Russland.
„Stockwerkskirche“ Ecke Ruhrstraße
Im Jahr 1928 gelang es mit Spendenmitteln, in Berlin-Wilmersdorf, Ecke Ruhrstraße, am Hohenzollerndamm, innerhalb eines neu errichteten Wohnkomplexes in den höheren Etagen eine weitere orthodoxe Kirche mit sichtbarer Kuppel zu bauen. Diese Kirche zur Auferstehung Christi wurde am 5. November 1928 von Metropolit Antonij eingeweiht. Im Parterre wurde einen Monat später eine „Domklause“ eröffnet. Aber schon im Oktober 1929, mit beginnender Weltwirtschaftskrise, wurde das Gebäude incl. „Stockwerkskirche“ wegen finanzieller Nöte versteigert. Der Erwerber des Wohnkomplexes gestattete schließlich dem Bischof Tychon, „die Kirche in dem Hause zu belassen“.
Der Frieden war nicht von langer Dauer. Nach der Machtergreifung Hitlers 1933 verging nur kurze Zeit, bis die Nationalsozialistische Deutsche Arbeitsfront den gesamten Gebäude-Komplex beanspruchte, zwecks Nutzung durch die Deutsche Lebensversicherung. Die „alte“ Kathedrale sollte weichen, und nur die bevorstehende Propagandashow der Olympischen Spiele 1936 verhinderte wahrscheinlich eine rüdere Entscheidung. Seitens der politischen Führung wurde der Russischen Orthodoxen Kirche im April 1936 am Hoffmann-von-Fallersleben-Platz ersatzweise ein Grundstück zur Verfügung gestellt.
Unter der Regie der Staatsbauverwaltung, nach Entwürfen und unter der Bauleitung von Ministerialrat Karl Schellenberg, entstand ein neuer Kirchenbau. Diese „neue“ Kathedrale wurde u.a. mit materieller Hilfe der orthodoxen Schwesterkirchen von Polen, Bulgarien, Serbien und Antiochien finanziert. Ihre feierliche Grundsteinlegung erfolgte am 31. August 1936, und am Pfingstsonntag, 12. Juni 1938, wurde sie von Metropolit Anastassij aus dem serbischen Karlowitz (Russische Auslandskirche) eingeweiht. Bischof Seraphim (Lade) wurde als Vorsteher der neuen Gemeinde eingesetzt und Erzbischof Tychon in seinen Ruhestand verabschiedet.
Kathedrale, Berlin 1945, Foto: Chronos Media
Die jetzt nachfolgende Zeit und den 2. Weltkrieg überstanden die russischen Emigranten und Gemeinden in Deutschland nur mit vielen Opfern, unter großem Leid, aufgrund von Kirchenverfolgung und Russenhass. So war der inzwischen als Heiliger kanonisierte Alexander Schmorell, Mitglied der Russischen Orthodoxen Kirche München, Mitbegründer der Weißen Rose, eines dieser Opfer. Als Bischof Gorazd von Prag am 14. Juni 1942 den inzwischen zum Metropoliten geweihten Seraphim (Lade) in Berlin besuchte, erhielt er die Nachricht, dass die Heydrich-Attentäter in seiner Prager Kirche Zuflucht gesucht hatten. Nachdem man diese am 18. Juni dort entdeckte und ermordete, wurde auch Bischof Gorazd nach seiner Rückkehr sofort verhaftet und in Prag am 4. September hingerichtet. Seine Heiligen-Kanonisierung erfolgte nach Ende des Krieges.
Wie durch ein Wunder überstand die Russische Kathedrale in Berlin den Krieg unzerstört. Doch während viele russische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene anstelle drohender Repatriierung und Zwangsarbeit in Stalins Gulag Richtung Amerika und Australien auswanderten, wurden die einstigen Erbauer der Kathedrale erst einmal von einer Kompanie Rotarmisten in Zivil „per Abstimmung“ vertrieben. Die sowjetischen Truppen hatten zu dieser Zeit noch das Recht, sich in den alliierten Sektoren frei zu bewegen. Und die sowjetische Behörde hatte das Ziel, die russische Auslandskirche zu verdrängen und den Klerus des Moskauer Patriarchats einzusetzen. Somit unterstand also von 1945 – 1948 die Auferstehungs-Kathedrale den Moskauer Hierarchen Alexander Nemolowskij, bis 1950 dann Sergius Koroljow, bis 1954 Boris Wik. Nach Rekonstruktion wurde die Kathedrale am 26. Oktober 1952 neu geweiht.
Neugründung der Gemeinde unter dem „Schutz der Gottesgebärerin“ (Pokrov)
Die aus der Kathedrale Vertriebenen wurden von der Witwe eines griechisch-orthodoxen Diamantenhändlers und Hausbesitzers aufgenommen in die Kulmbacher Straße 10 in Berlin-Wilmersdorf – was einem Wunder gleichkam. Man erinnere sich an die damalige Wohnungsnot und die zerstörten Straßenzüge. Im Jahr 1948 wurde dort eine neue Gemeinde gegründet unter dem „Schutz der Gottesgebärerin“ (russisch: Pokrov). Die Gemeinde befand sich nun also im Erdgeschoss eines Wohnhauses, weil keinerlei Mittel vorhanden waren für einen Grundstückskauf und für Kirchenneubau. Priester aus der Bundesrepublik zelebrierten in den ersten Jahren, nicht selten in Sorge vor dem NKWD. So erinnert sich S.E. Mark, Erzbischof von Berlin und Deutschland, dass noch bis in die 70er Jahre die aus Westdeutschland per Flugzeug anreisenden Priester am Flughafen Tempelhof unter Polizeischutz gestellt wurden – aus Angst vor Entführungen durch die sowjetischen Geheimdienste. Auch dies ist ein ungeschriebenes Kapitel des Kalten Krieges.
Der Mauerbau und die Abwanderung der russischen Emigration ließen dem Gemeindeleben in den russischen orthodoxen Kirchen Berlins (Hohenzollerndamm, Kulmbacher Straße, Tegel) über lange Zeit kaum Entfaltungsmöglichkeiten. Doch die Bischöfe, Priester und Gläubigen der Russischen Kirche in Berlin und Deutschland vermochten auch unter den oft schweren Bedingungen ihre kirchlichen Traditionen zu bewahren. Die „Wohnzimmerkirche“ in der Kulmbacher Straße war für die Mehrheit der Berliner Nachbarn eine Art exotische Veranstaltung. Dennoch wurde sie toleriert, und es gelang hier, jahrzehntelang in Frieden Gottesdienste zu feiern, sogar Oster-Prozessionen um den ganzen Block zu führen.
Fest in der Kulmbacher Straße
Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs, dem Ende der Sowjetunion als Staat und der deutschen Wiedervereinigung setzte eine neue Welle der Emigration ein. Allein weit mehr als drei Millionen russischsprachiger Übersiedler fanden ab den frühen 90er Jahren in Deutschland eine neue Heimat, ein Drittel von ihnen russisch-orthodoxen Glaubens. Und wieder waren für den Andrang der zahlreichen neuen Gemeindemitglieder die Kirchen viel zu klein. Bald zählte Berlin erneut über 200.000 russischsprachige Einwohner, mit ständigem Wohnsitz in unserer Stadt.
Erzpriester Alexander Nelin
So wuchs auch sehr schnell die Gemeinde „Schutz der Gottesgebärerin“ in der Kulmbacher Straße.
Eine lange Reihe von Priestern bewältigte die räumlich angespannte und auch kirchenpolitisch noch ungeklärte Situation. Bis 1989 versorgen Erzpriester Alexander Nelin und Erzpriester Nikolaj Artemoff aus München die Gemeinde. Ihm folgte bald der von seinen geistlichen Kindern sehr geliebte Erzpriester Jevgenij Sapronow (Brüssel, †2012), dessen pastoraler Dienst den Neuaufschwung der 90er Jahre markierte und den Kern unserer heutigen Gemeinde schuf. Ihm zur Seite stand die langjährige Gemeindeälteste Sophie Buzoianu-Lukat („Sophie Eduardovna“, † 2008), welcher unsere Gemeinde die erste Initiative zur Sammlung für eine neue Kirche zu verdanken hat.
Erzpriester Jevgenij (Sapronow) und
Sophie Eduardovna
Aus dem Dienst und dem Kirchenleben unserer Berliner Gemeinde der Gottesmutter gingen neben Vater Jevgenij Skopinzev zahlreiche Kleriker hervor, die zum Teil bis heute in Deutschland und anderen Diözesen wirken: so Priester Alexej Schau (Berlin), Priester Andrej Trufanow (Bari, † 2004), Erzpriester Sergij Plekhow (Kopenhagen), Priester Evstavij Hripunow (Vancouver), Priester Alexander Kalinskij (Wiesbaden) und Priester Sergij Ivanow-Pankow (Hannover).
Auch Erzpriester André Sikojev, der nach 14-jährigem Dienst als Diakon in München (1991 – 2005) mit seiner Priesterweihe im Mai 2005 die Berliner „Schutz der Gottesmutter“-Kirche unter dem Vorstand S.E. Erzbischof Mark übernahm, war durch sein vorhergehendes 5-jähriges Diakonat in seiner Heimatstadt Berlin ebenfalls mit der Gemeinde bereits aufs Engste verbunden. Bis heute dient somit Vater André unserer Berliner Kirchengemeinde ohne Unterbrechung seit 18 Jahren.
10 Jahre Russisch-Orthodoxe Pokrov-Kirche an der Spree
Immer akuter wurde die Frage nach einer größeren Kirche. Doch fast ein Jahrzehnt dauerte es, bis die Pokrov-Gemeinde in Berlin eine Lösung fand. Inzwischen hatten sich die Russische Auslandskirche und das Moskauer Patriarchat einander angenähert, und strebten seit 2003 offiziell die Wiederherstellung der vollen Kircheneinheit an. Im Mai 2006 beschloss das Bischofskonzil der Auslandskirche die Aufhebung der Kirchentrennung, und am 17. Mai 2007 erfolgte in Moskau feierlich die Besiegelung eines „Aktes der kanonischen Gemeinschaft“. Den Akt unterzeichneten der damalige Patriarch Alexij II. und Metropolit Lavr, beide unterdessen verstorben.
Bereits in seinem Diakonat hatte sich Vater André Sikojev intensiv mit der Suche nach einem neuen Kirchengrund oder einem Gebäude beschäftigt. Viele Vorschläge und Angebote mussten jedoch aus logistischen und baulichen Gründen verworfen werden oder waren schlicht unbezahlbar. Doch erst 2006 – durch einen Hinweis von Anna Markovskaja, der Frau unseres Kirchenältesten Eduard Wladimirovitsch Markovskij – wurde unser heutiger Gemeindepriester fündig. Ein Gebäude (ehemals Kindergarten) plus Grundstück, zentral gelegen neben der Caprivibrücke, direkt an der Spree, unweit vom Rathaus Berlin-Charlottenburg, mit U-Bahn-Anschluss, Bus-Halte-, sogar Schiffs-Anlegestelle, bot beste Voraussetzungen.
Gekröntes Hochzeitspaar
Nach zähen und mühsamen Verhandlungen konnte das relativ große städtische Gebäude mitsamt Grundstück vom Liegenschaftsfonds relativ preiswert erworben werden. Unterstützt wurde die Gemeinde durch Erzbischof Mark bzw. die Diözese, welche den größten Teil der Finanzierung kreditierte. Nach einer intensiven Umbauphase innen und außen mit fachgerechter Hilfe einer Baufirma, aber gleichzeitig auch sehr viel Eigenleistung der Gemeinde, konnten im Jahr 2009 mittels Baukran drei kreuzgekrönte goldene Kuppeln aus Kiew aufs das dreiteilige Dach gehoben werden. Der einstige Kindergarten wurde geschmückt mit blauem Anstrich, der Farbe der Gottesmutter, unserer Fürbitterin und Namensgeberin.
Ikone Kurskaja Korennaja
Nach einer Zwischenphase mit Gottesdiensten im Gebäude-Parterre erblühte unser liturgisches Leben auf der völlig umgestalteten oberen Kirchenebene. Seitdem werden alle Herren- und Gottesmutterfeste, wie es die Tradition gebietet, aber auch – jedes Jahr mehr – Heiligenfeste gefeiert. Mit besonderer Liebe gestaltet die Gemeinde die Feste der Gottesgebärerin. Wenn hin und wieder die wundertätige Kurskaja Korennaja, die zentrale Schutz-Ikone der Auslandskirche, in der Spreekirche zu Besuch ist, strömen hunderte orthodoxe Gläubige aus ganz Berlin zu diesem Ereignis.
Besonders wichtige Ereignisse sind die regelmäßigen Gottesdienste mit Erzbischof Mark und Erzbischof Agapit, welche der wachsenden Bedeutung Berlins als Bischofssitz der Russischen Auslandskirche jedes Jahr mehr Rechnung tragen. Ob zu größeren oder kleineren Kirchenfesten oder etwa zur Krankensalbung zum Ende der Großen Fastenzeit, stets erwarten die orthodoxen Gläubigen in freudiger Stimmung ihre Bischöfe. Eine Priesterversammlung beider russischen Diözesen auf deutschem Boden mit mehr als hundert Geistlichen konnte organisatorisch gemeistert werden. Doch auch die Hochzeiten und Taufen, die Segnungen, die vielen Moleben und Panichiden beleben aus frohem oder traurigem Anlass den regulären kirchlichen Rhythmus. Hinzu kommen u.a. die Feiern der Namens- und Geburtstage von Mitgliedern der Gemeinde während der sonntäglichen Trapeza, bei gutem Wetter auch draußen im Garten mit Kinderspielplatz und Grill.
Kreuzumzug mit der Kurskaja-Korennaja-Ikone
Das Gemeindeleben reicht noch viel weiter. Außer in den Ferienzeiten werden jeden Samstag am Nachmittag Kinder unterschiedlichen Alters an unserer Gemeindeschule „Kyrill und Method“ für Russisch und Religion betreut, aufgeteilt in mehrere Klassen. Regelmäßig finden seit vielen Jahren katechetische Abende in russischer und deutscher Sprache statt. Immer wieder ergeben sich theologische und wissenschaftliche Vorträge. Sehr beliebt sind unsere Literaturabende, und Klavierkonzerte, aber auch Filmvorführungen und Vortragsabende. Vater André leitet Kinder- und Jugendlager, organisiert Familien- und Pilgerreisen, z.B. zum Athos. Seit vielen Jahren unterstützt unsere Gemeinde Vater André Sikojev bei seiner Arbeit für die Kinder bzw. Jugendlichen von Beslan (Stichwort: Traumatherapiezentrum Ossetien) oder für die Orthodoxe Diakonie unserer Diözese mit Aktionen und Spenden (GutTat e.V.).
Unser inständig erbetenes Vorhaben ist der Neubau der Steinkirche auf unserem Grundstück. Gott helfe uns!