DER GESEGNETE KNABE. Zum Gedenktag des Hl. Sergius von Radonesch

Deutschsprachige Übersetzung aus dem Buch von Erzbischof Nikon Roschdestwenskij „Leben und Kämpfe unseres ehrwürdigen und gotttragenden Vaters Sergij, des Abtes von Radonesch und Wundertäters von ganz Russland“, Gesellschaft zum Gedenken der Äbtissin Taisija, St. Petersburg, 2014

 

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Zum Kapitel I

Kapitel II

Der gesegnete Knabe

Schwache Erfolge im Lesen und Schreiben. – Kummer des Kindes. – Gebete des Kindes. – Der wunderbare Alte. – Die wundervolle Wende. – Belehrung von oben. – Geistige Kämpfe des Kindes. – Vernünftige Antworten des Knaben. – Benehmen und Verfassung seiner Seele. – Gebetsergüsse vor Gott.

(1326-1332)

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Akathistos

Als Warfolomej sieben Jahre alt wurde, schickten ihn die Eltern in die Schule. Unsere frommen Vorfahren betrachteten das Erlernen des Schreibens allemal als eine heilige Sache: Dessen Beherrschung war der Schlüssel zum Lesen und Verstehen der Heiligen Schriften. Und die Schulen der Schriftkunde, von denen es zu jener Zeit sehr wenige gab, wurden unter der Obhut von Bischöfen und überhaupt von Geistlichkeit gegründet. Bischof von Rostov war zu jener Zeit, von der wir sprechen, Prochor, ein gelehrter und frommer Mann 1. Unter seiner Führung wurden als Lehrer in Schulen natürlich gottesfürchtige Leute eingesetzt.

Zusammen mit Warfolomej lernten auch seine zwei Brüder: Der ältere Stefan und der jüngere Pjotr. Diese Brüder hatten im Unterricht Erfolg, obwohl zu jener Zeit Pjotr nicht einmal sechs Jahre alt war, aber Warfolomej blieb weit hinter ihnen zurück. Der Lehrer züchtigte ihn, die Mitschüler spöttelten und verlachten ihn sogar, die Eltern redeten auf ihn ein; und er selbst strengte alle Kräfte seines Kindergeistes an, verbrachte die Nächte über dem Buch, und öfters, indem er sich vor den Blicken der Menschen verbarg, weinte er irgendwo in der Einsamkeit bitterlich über seine Unfähigkeit, und betete heiß und innig zu Gott, dem Herrn: „Gib Du mir doch, Herr, dies alles zu verstehen; Bring Du es mir bei, Herr, erleuchte und belehre mich!“ Doch der Unterricht brachte ihm gar nichts.

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Ein schweres Gefühl empfindet der Mensch“, sagt Metropolit Platon, „wenn er mit ganzer Seele zu lernen wünscht, einen feurigen Drang nach Bildung in sich verspürt, aber auf dem Wege zum Ziel seiner Wünsche auf irgendwelche unüberwindlichen Hindernisse trifft“. Das gute Kind war durch seine Erfolglosigkeit sehr betrübt. Nicht wenig waren ebenso seine Eltern darüber traurig, wie auch der Lehrer: Alle fanden es bedauerlich, dass der Knabe der großen Gabe Gottes entbehrte – die Bücher zu verstehen. Aber offensichtlich war es nötig, dass der Knabe, für den es solch gute Vorzeichen gab, aus früher Erfahrung heraus begriff, dass man sich selber weder Erfolg, noch Kenntnis, noch auch Fähigkeiten zuschreiben darf, sondern einzig allein dem Gott, dem Vater der Lichter, von Dem herabkommt von oben jegliche gute Gabeund jedes vollkommene Geschenk (Jak. 1, 17). Und demütigt euch unter diegewaltigeHand (1. Petr. 5, 6) Dessen, Der allein erleuchtet jeden Menschen, der indie Welt kommt (Joh. 1, 9). – Was alles überwinden doch nicht Lerneifer und Mühen, noch mehr das Gebet, besonders das Gebet, welches dem reinen Herzen eines unschuldigen Kindes entströmt? – Und siehe, der Herr,Der nahe ist allen, die Ihn in der Wahrheit anrufen (Ps. 144, 18) erhörte letztendlich auch das innige Gebet des mit Vernunft gesegneten Knaben Warfolomej, und schenkte ihm das Erbetene.

Der Vater schickte ihn einmal aufs Feld, Fohlen zu suchen, welcher Auftrag der Seele des Jungen besonders entgegen kam, weil ihm gefiel, von den Menschen abgeschieden zu sein. Doch dort geschah mit ihm etwas Ähnliches wie mit Saul, als dieser ebenso von seinem Vater geschickt wurde, um verlorene Eselchen zu suchen, und den Propheten Samuel traf, der ihm verkündete, dass er König über Israel sein wird. – Auf dem Feld, unter einer Eiche, erblickte Warfolomej einen schwarzgekleideten, unbekannten Starez, der Würde nach ein Priester; dieser andächtige, einem Engel ähnliche Starez brachte Gott, dem Allgegenwärtigen, seine Gebete dar und vergoss vor dem Allwissenden Tränen innerster Rührung. Der bescheidene Knabe, nachdem er sich vor ihm verneigt hatte, wich ehrerbietig zur Seite, denn er wünschte nicht dessen Gespräch mit Gott zu unterbrechen, und blieb in der Nähe stehen und wartete auf das Ende des Gebets. Der Starez bechloss das Gebet; er blickte mit Liebe auf das gute Kind, sah in ihm voraus mit geistigen Augen das auserwählte Gefäß des Heiligen Geistes, rief es freundlich zu sich heran, segnete es, küsste es väterlich und fragte: „Was möchtest du, mein Kind?“

Obwohl der Junge geschickt wurde, Pferde zu suchen, war seine schwermütige Seele auch gerade zu dieser Stunde ganz und gar beschäftigt mit den unerfreulichen Gedanken über seine Unfähigkeit, lernen zu können; jetzt vergaß er einmal seine Pferde und erzählte mit kindlicher Einfalt dem Starez von seinem Herzenskummer.

– „Sie haben mich in die Schule geschickt“, sprach voller Tränen Warfolomej, „und mehr als alles wünscht sich meine Seele, Seite 16_1das Wort Gottes lesen zu lernen; aber wie sehr ich mich auch bemühe, ich kann es einfach nicht lernen, und verstehe nicht, was sie mir erklären, und bin sehr traurig darüber; bete für mich zu Gott, heiliger Vater, erbitte bei Gott, dass Er mir aufschließt, die Bücher zu verstehen: Ich glaube, dass Gott deine Gebete erhört“.

Der Starez war gerührt von solcherlei Worten eines kleinen Knaben; er sah seinen Eifer und ihm gefiel die Schönheit der kindlichen Seele, die sich auf seinem sanften Antlitz widerspiegelte, er erhob die Hände, wandte die Augen zum Himmel, und seufzte vor Gott aus der Tiefe des Herzens, und erbat für das Kind die Erleuchtung von oben… O, wie feurig war dieses Gebet des geheimnisvollen Starez unter dem freien Himmel, unter dem Schatten der Eiche, und in welcher Hoffnung bebend verband mit ihm der selige Warfolomej sein eigenes reines kindliches Gebet! In rührender Einheit zweier Seelen – des Alten mit weißgrauem Haar und des kleinen Knaben – stieg ihrer beider Gebet wie reiner Weihrauch zum Himmel empor, und gelangte zum Thron des Allerhöchsten…

Der Starez endete sein flammendes Gebet mit dem geheiligten Wort: Amen, und zog aus seiner Brusttasche behutsam eine kleine Schatulle. Er öffnete sie und entnahm mit drei Fingern ein winziges Teilchen einer heiligen Prosphore, segnete damit Warfolomej, und sprach: „Nimm das, Kind, und iss; dies wird dir gegeben zum Zeichen der Gnade Gottes und zum Verständnis der Heiligen Schrift. Sieh nicht darauf, dass dieses Brotes Teilchen so klein ist: Denn groß und süß ist es, davon zu kosten“.

Müssen wir darüber sprechen, mit welchem Entzücken der gesegnete Knabe diese heilige Gabe empfing? Im Auge des Kindes glänzten Tränen der Freude; mit Ehrfurcht kostete es vom heiligen Brot und wie süß erschien ihm diese geheimnisvolle Speise!

– „Wurde nicht hiervon in den Psalmen gesungen“, – sprach das Kind zum Alten: Wie süß sind meiner Kehle Deine Worte, süßer als Honig für meinen Mund, und meine Seele liebte sie sehr (Ps. 118, 103)?

Wir stellen erstaunt fest, dass der junge Warfolomej, seinem heiligen Wissensdrang und Eifer entsprechend, viele Psalmen auswendig lernte, vom bloßen Hören bei seinen frommen Eltern, und diese natürlich oft wiederholte bei seinen einsamen Wanderungen über die Felder und Wiesen seiner Heimat. Deshalb kamen ihm auch jetzt ins Gedächtnis die oben zitierten Worte des Sängers der Psalmen.

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Der Starez entnahm behutsam mit drei Fingern ein winziges Teilchen der heiligen Prosphore, und segnete damit Warfolomej, und sprach: „Nimm das, Kind, und iss; dies wird dir gegeben zum Zeichen der Gnade Gottes und zum Verständnis der Heiligen Schrift…“ S. 30

Wenn du nur glaubst, Kind“, antwortete ihm der Starez, „wirst du Größeres sehen als dieses. Und besorge dich nicht über das Lesen und Schreiben: Wisse, dass Gott von nun an dir mehr Verständnis der Bücher geben wird als deinen Brüdern und Kameraden, so dass du auch anderen nützlich wirst“.

Sich aus ganzem Herzen freuend, dass Gott ihm gewährte, einen solch heiligen Starez zu treffen, lauschte jetzt Warfolomej voll innerem Jubel den seiner Seele so förderlichen Weisungen; wie Samen in gute Erde, so fielen die segensreichen Worte in sein gutes Herz.

Schon wollte sich der Starez, nachdem er das Kind zur Genüge über die Rettung der Seele belehrt hatte, auf den Weg machen; aber dieser mit Vernunft begabte Knabe gedachte nicht Abschied zu nehmen von seinem heiligen Unterweiser; er fiel auf seine Knie und flehte ihn unter Tränen an, doch ins Haus seiner Eltern zu kommen. „Meine Eltern“, sprach Warfolomej, „lieben überaus solche wie Dich, Vater! Verwehre doch gleichermaßen ihnen nicht deinen heiligen Segen!“

Wie viel kindliche Einfalt spricht aus diesen Reden des guten Jungen! In ihnen tritt ganz die liebende Seele des heiligen Kindes zutage, und wie glücklich sind Eltern, die Gott mit solchen Kindern segnete! Wahrlich, derartige Kinder sind ein Segen Gottes. Sie tragen nicht nur in sich selbst den himmlischen Segen, sondern lesen ihn auch sozusagen allenthalben auf, um ihn auf das Haus der Eltern zu ziehen.

Mit einem Lächeln der Liebe folgte der Starez dem gastfreundlichen Jüngling, und mit Ehrerbietung begegneten ihm Warfolomejs Eltern. Für fromme Menschen wird ein solcher Starez – ein Mönch – immer zum erwünschten Gast, und Kirill und Maria liebten vorzugsweise, bei sich zu Hause Mönche zu empfangen und ihnen eine Ruhepause zu gewähren. Sie empfingen also vom Starez den Segen und boten ihm herzliche Bewirtung. Der Gast aber zögerte zunächst, sich an den Tisch zu setzen: „Denn vorher ziemt es sich, geistige Nahrung zu kosten“, bemerkte er und wendete sich in Richtung des Gebetszimmers. Ein solches befand sich zur guten alten Zeit in jedem Haus frommer Fürsten und Bojaren. Dort hinein ging er mit Warfolomej, und, nachdem er den Beginn der dritten Stunde gesegnet hatte, gebot er diesem, Psalmen zu lesen…

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Vergeblich brachte der Knabe Ausflüchte wegen Unfähigkeit vor: Der Starez selbst gab ihm das Buch in die Hände und sagte gebieterisch, dass er das Wort Gottes lesen solle, ohne zu zweifeln. Und was geschah? Der Knabe empfing vom Starez den Segen, und begann, sich ehrfürchtig bekreuzigend, die Verse des Psalters schön und klar zu artikulieren!.. Und er selbst, wie auch die Eltern und die Brüder konnten sich nicht genug darüber verwundern, wie gut er doch liest… Denn bis zu dieser Zeit war er ja so stumpf im Lernen und verstand doch so wenig!.. Darüber erzählte später der Ehrwürdige selbst. 2
In ihm wurde zur Wahrheit, bemerkt der selige Epifanij, das Wort des Propheten: So spricht der Herr: … siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund (Jerem. 1, 8,9).

Sodann kostete der heilige Gast von dem ihm vorgesetzten Mahl, und, nach Segnung der gastfreundlichen Hausherren, wollte er aufbrechen; aber die frommen Bojaren fanden es bedauerlich, ihn so bald gehen lassen: Sie wünschten noch mit dem im geistigen Leben so erfahrenen Starez Gespräche führen. Sie hatten ja bei ihm schon die Gabe der Scharfsichtigkeit wahrgenommen. So erzählten sie ihm im Übrigen, wie ihr Sohn noch im Mutterleib dreimal in der Kirche geschrien hatte, und wollten erfahren, wie der Starez über dieses Geschehnis denkt. Denn sie sannen durch dessen Ungewöhnlichkeit zwangsläufig darüber nach.

Seite 19_1O, gute Eheleute!“, sprach zu ihnen darüber der Starez: „Siehe, der Herr hat euch einer solch großen Gnade gewürdigt, hat euch einen solchen Sohn gegeben: Warum nur fürchtet ihr euch da, wo es nichts zu fürchten gibt? Ihr solltet euch freuen, dass Gott euch mit einem solchen Kind gesegnet hat: Er erwählte euren Sohn noch vor seiner Geburt. Und dass ich euch die Wahrheit sage, dafür gebe ich euch ein Zeichen: Von jetzt an wird dieser Knabe die ganze Weisheit des Buches gut verstehen und die Göttliche Schrift frei lesen. Wisset, dass euer Sohn groß sein wird vor Gott und den Menschen, für sein tugendhaftes Leben!“.

Der Starez stand auf, um zu gehen; auf der Schwelle des Hauses schon wandte er sich nochmals zu Warfolomejs Eltern um und sprach im prophetischen Geiste die folgenden rätselhaften Worte: „Der Knabe wird dereinst zur Wohnstätte der Allerheiligsten Dreiheit; ihm werden viele nachfolgen im Verständnis der göttlichen Gebote“.

Die gastfreundlichen Hausherren begleiteten den Pilger bis zum Tor ihres Gutshauses; doch hier wurde er plötzlich unsichtbar, so dass Kirill und Maria unwillkürlich dachten: Wurde ihnen etwa ein Engel Gottes gesandt, um ihrem Sohn Weisheit zu schenken? 3 – Und sie bewahrten tief in ihren ehrfürchtigen Herzen dessen geheimnisvolle Worte.

Übrigens, wie der Starez sprach, so geschah es auch: Mit dem Knaben vollzog sich eine wunderbare Wandlung. Welches Buch er auch öffnete, er begann sofort es ohne jede Mühe zu lesen, und verstand auch den Sinn dessen, was er las. Auf solche Weise folglich wirkte im jungen Warfolomej die Gabe Gottes, so unerwartet auf ihn herab gesandt, und erleuchtete seinen Verstand. Wir brauchen nicht davon zu sprechen, dass er im Lernen nach dieser Begebenheit sehr bald sowohl seine Brüder als auch die übrigen Schulkameraden übertraf.

Nicht selten können wir auch noch in unserer Zeit auf Beispiele von heißer kindlicher Frömmigkeit stoßen, von anhaltend heißen Gebeten mit Tränen, der Liebe zum Gottesdienst, des eifrigen Strebens, die asketischen Kämpfe der heiligen Väter nachzuahmen; das sehen wir in jenen frommen Familien, in welchen die Kinder mit Gottesfurcht, mit dem Lesen der Heiligenviten, unter dem Schutz der Kirche Gottes aufwachsen. Und in der alten Rus‘ wurden Kinder im streng kirchlichen Geist erzogen. Und dieses Gefühl, diese Bestrebungen des Kindes, rein und heilig, bringen in seine junge Seele nicht Trauer und Finsternis, sondern freudige Stille, Klarheit und Ruhe. Das Kind schöpft aus ihnen geistige Kraft und Stärke; in seiner Seele entstehen lichte Bilder (Ideale) eines heiligen Lebens, eines Lebens nach dem Evangelium Christi, Bilder, welche mit seinem jungen Herzen verwachsen und für sein ganzes Leben ein vertrautes Heiligtum werden, zu welchem sich später der Mensch mit warmem Gefühl sogar in hohem Alter hinwendet. Und je stärker diese heiligen Bestrebungen in der Kindheit sind, desto mehr erleuchten sie auch in der Folge die Finsternis des Lebens in diesem Jammertal. Sie versöhnen den Ankömmling auf der Erde, ermattet vom Missgeschick des Lebens, mit seinem unerfreulichen Los, unterstützen, ermuntern, trösten ihn auf seiner mühevollen Pilgerschaft zum himmlischen Vaterland.

 

So war es auch mit dem Knaben Warfolomej. Früh entfaltete sich in seiner Seele, erzogen durch Beispiele und Vorbilder der Frömmigkeit, das Gefühl der Liebe zum Gebet und die Bereitschaft zum „podvig“4, um Gott zu gefallen. Das einfache, gute Herz des Kindes ist ja eine offene Tür für die göttliche Gnade; deshalb auch sagt der Herr über die Kinder: Denn solcher ist das Himmelreich (Math. 19, 14). Früh stieg die göttliche Gnade zum unschuldigen Herzen des Knaben Warfolomej herab, und trat dort ein. Aus ganzer Seele gewann Warfolomej die kirchlichen Liturgien lieb und ließ keinen einzigen Gottesdienst in der Kirche aus. Unsere Vorfahren kannten weder noch liebten besonders, irgendwelche Bücher weltlichen Inhalts zu lesen: Die Heiligenviten, die Schriften der heiligen Kirchenväter, diverse alte Schriftdenkmäler, Sammlungen, Chroniken über vergangene Ereignisse im Heimatland – das waren die Bücher, die Lieblingslektüre dieser Zeit. Selbstverständlich gab es im Haus des frommen Bojaren Kirill keinen Mangel an solchen Büchern. Der Knabe Warfolomej las sie wieder und wieder, und wer weiß? – vielleicht wurden einige Manuskripte des XII.-XIV. Jahrhunderts, welche noch in der Bibliothek der Lavra aus der Zeit ihres Gründers erhalten blieben, von ihm selbst in die Einsiedelei gebracht, als das einzige teure Erbe nach dem Ableben seiner Eltern. Nachdem er aus solchen Büchern Lehren der Geistesweisheit geschöpft hatte, strebte er sofort danach, diese in seinem Leben anzuwenden – „Nicht so“, bemerkt der heilige Metropolit Filaret, – „wie viele ergraute Wissenschaftler, deren Lehre in Worten aufblüht, aber in Taten keine Früchte bringt“. Bald verstand er, dass noch in jugendlichem Alter die Leidenschaften bereits beginnen, ihre verderbliche Kraft zu manifestieren, welche zu zügeln nicht wenig Mühe erfordert; und wer auch nur einmal in der Jugend den Trieben nachgibt, und ihnen gestattet, zu Fesseln lasterhafter Neigungen zu werden, dem fällt es umso schwerer, sie zu überwinden. Und so trifft der vernünftige Knabe alle Vorkehrungen, um sich vor ihrer Einwirkung zu schützen, und schneidet alle Wege ab, auf welchen sie gewöhnlich den Zugang zum menschlichen Herzen finden. – So wich er vor allem ganz und gar den Kinderspielen aus, der Witzelei, dem Gelächter und dem leerem Geschwätz, sich daran erinnernd, dass böse Geschwätze gute Sitten verderben (1. Kor. 15, 33), und dass man bei den Störrischen leicht selbst verkehrt werden kann (vgl. Ps. 17, 27). Später, nachdem er erkannt hatte, dass Enthaltung in allem das beste Mittel ist die Leidenschaften zu zügeln, und der von Leidenschaften freie Geist und ein Denken, nicht verfinstert durch sie, fähiger wird zur Wahrnehmung der Gnade Gottes, da nahm der heilige Knabe strenges Fasten auf sich: Mittwochs und freitags erlaubte er sich nichts zu essen, und an anderen Tagen sich nur von Brot und Wasser zu ernähren. Auch nur an irgendwelche anderen Getränke zu denken, um nicht etwa zu sprechen von Wein, gestattete er sich sein ganzes Leben hindurch nicht.

Die besorgte Mutter versuchte die Strenge seines Fastens zu mäßigen: „Zehre dich nicht durch übermäßige Enthaltung aus, mein Sohn“, sprach sie, „damit du nicht krank wirst durch Unterernährung: Dann würdest du ja auch uns nicht wenig Kummer bereiten. Du bist doch noch Kind, dein Körper wächst noch; sieh her: Niemand in deinem Alter nimmt ein solches Fasten auf sich. Weder deine Brüder noch deine Kameraden fasten so wie du; andere Kinder essen siebenmal am Tag, und du, mein Kind, isst nur einmal am Tag, und sogar nicht jeden Tag; höre auf damit, das ist nicht nach deinen Kräften: Alles Gute ist schön mit Maß, und zu seiner Zeit. Iss wenigstens mit uns zusammen“.

Aber der mit Vernunft begabte Knabe erwiderte auf diese Ermahnung der liebevollen Mutter sanft: „Schränke mich hierin nicht ein, meine liebe Mutter, damit ich nicht genötigt werde, dermaßen gegen deinen Willen zu handeln. Bringe mich nicht ab von der Enthaltsamkeit, welche für meine Seele so wonnevoll ist; wozu rätst du deinem Sohn Unnützes? Ihr hattet mir doch schon erzählt, dass ich bereits in der Wiege mittwochs und freitags fastete; wie kann ich mich etwa nicht zwingen, Gott zu gefallen, damit Er mich von meinen Sünden befreit?“

Du bist noch keine zwölf Jahre alt“, – widersprach ihm die Mutter, „und du sprichst schon von deinen Sünden! Wir sahen an dir die klaren Zeichen der Gnade Gottes; du erwähltest ja das gute Teil, welches von dir nicht genommen wird – aber was hast du für Sünden?“

Lass‘ das, Mütterchen“, antwortete ihr der Sohn mit unterdrücktem Verdruss: „Was redest du da? Dich reißt deine natürliche Liebe zu Kindern fort; höre doch, was die Heilige Schrift sagt: Niemand ist rein vor Gott, auch wenn er nur einen Tag lebt (vgl. Hiob 14, 4,5); niemand ist ohne Sünde, nur Gott allein, und der göttliche David spricht von unserer Schlechtigkeit: In Unrecht bin ich empfangen, und in Sünden gebar mich meine Mutter (Psalm 50, 7), deshalb rühme sich kein Mensch! Speise und Trank, das ist doch klar, bringen uns Gott nicht nahe! (vgl. 1. Kor. 8, 8)“.

Die Mutter wunderte sich über die vernünftigen Reden ihres Sohnes, und sie sprach zu ihm, da sie sein gutes Streben nach Gott nicht zu behindern wünschte: „Wenn du auf solche Weise urteilst, dann handle, wie du magst; der Herr ist mit dir, ich möchte dich nicht im Guten bedrängen, mein Kind!“…

Und der heilige Knabe gestattete sich niemals auch nur irgendwelche süßen Gerichte und Getränke zu kosten, entsprechend der weisen Belehrung des Basilios des Großen: „Wenn du ins Paradies gelangen möchtest, entsage dem Bauch, fliehe die Trunksucht“. 5 Derart also bändigte er sein junges Fleisch durch Enthaltsamkeit und allerlei Mühen, zur Bewahrung der seelischen und körperlichen Reinheit, und in nichts verletzte er den Willen seiner Eltern: Als sanfter und gehorsamer Sohn war er für sie ein wahrhaftiger Trost.

Und in ihm erblickten wir noch vor der Mönchsweihe einen vollkommenen Mönch“, sagt der selige Epifanij; „Sein Benehmen war voll der Bescheidenheit und Keuschheit; niemand sah ihn lachend, und wenn auch zuweilen ein sanftes Lächeln auf seinem schönen Antlitz erschien, dann war es zurückhaltend; und oft war sein Gesicht ernst und nachdenklich; nicht selten standen merkliche Tränen in den Augen, Zeugen seines zerknirschten Herzens; seinen Mund verließen nie die Göttlichen Psalmen David. Stets still und schweigsam, sanft und demütig, war er zu allen freundlich und liebenswürdig, nie gereizt, und gelegentliche Unannehmlichkeiten nahm er von allen mit Liebe hin. Er trug schlechte Kleidung, und begegnete er einem Armen, so gab er ihm seine Kleider gerne ab“.

Warfolomejs junge Seele, in ehrfürchtiger Verfassung, bestimmte ihn ganz natürlich, die Einsamkeit aufzusuchen, wo er, allein mit Gott, im tränenreichen Gebet all die heiligen Gefühle des unschuldigen Herzens vor Ihm ausgießen und um Stärkung des Geistes flehen konnte, für den zukünftigen Lebensweg, mit Selbsthingabe an den Willen Gottes. Und er handelte auch entsprechend.

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Besonders liebte er nachts zu beten. Manchmal verbrachte er ganze Nächte ohne Schlaf, und verbarg dabei all das sorgsam vor den Seinen im Hause. Und mit welch kindlichem Zutrauen und flammender Liebe zu Gott, in welch sozusagen weiser Schlichtheit atmete sein reines Gebet! „Herr!“, so rief er empor voller Rührung des Herzens: „Wenn es wahr ist, wovon mir meine Eltern erzählten; wenn Du schon vor meiner Geburt in diese Welt mit Wohlwollen über mir Armseligem wunderbare Zeichen Deiner Gnade erscheinen ließest; dann geschehe Dein Wille, Herr! Deine Gunst, Herr sei über mir! Und gib mir doch, Herr, Dich von meiner Kindheit an aus ganzem Herzen und aus meiner ganzen Seele zu lieben, und Dir als Einzigem zu dienen, denn ich bin Dir ergeben vom Leib meiner Mutter, vom Schoß an, von der Brust meiner Mutter an bist Du mein Gott! Und wie mich Deine Gnade besuchte, als ich noch im Leib meiner Mutter war, so verlasse mich auch jetzt nicht, Herr! Mein Vater und meine Mutter – es kommt die Zeit – werden mich verlassen, aber Du, nimm mich an, lass mich ganz Dein sein, und zähle mich zu Deiner auserwählten Herde! Dir wurde ich Armer übergeben ja schon von der Wiege an, – rette mich doch, Herr, vor jeder Unreinheit, vor jeder geistigen und körperlichen Befleckung; gewähre mir Heiligung in Gottesfurcht, Herr! Zu Dir, dem Einzigen, lass mein Herz hinstreben; mögen mich nicht die Genüsse dieser Welt ergötzen; mögen mich nicht all die Schönheiten dieses Lebens verführen; lass meine Seele Dir, dem Einzigen, anhangen, und es möge mich Deine Rechte annehmen… Lass nicht zu, dass ich irgendwann höchst erfreut sein werde durch die Freude dieser Welt, sondern erfülle mich, Herr, mit geistiger Freude und unsagbarer göttlicher Süße; Dein guter Geist führe mich auf ebener Bahn.“

Und so weidete jeder, der diese gute Verfassung bei Warfolomej sah, unwillkürlich seine Blicke an ihm, und sprach zu sich selbst verwundert: Was mag aus diesem Kind wohl werden, dem Gott bereits seit früher Kindheit solche Gnade gewährte?

 

Und der Knabe, der unterdessen zum Jüngling geworden war, wuchs mit den Jahren auch in der Frömmigkeit. Und ganz von selbst keimte in ihm der Wunsch nach mönchischer Askese, und mit jedem Tag mehr und mehr wuchs und reifte dieser Wunsch, bis er sich zuletzt in flammenden Durst der Seele wandelte, in welchem schmachtend einst der gekrönte Asket und Prophet ausrief: Es dürstet meine Seele nach Gott, dem Starken, Lebendigen. Wann, endlich werde ich kommen und vor Gottes Antlitz erscheinen? (Psalm 41, 3).

Aber nicht im Rostower Land, nicht im Rostower Fürstentum, welches damals bereits seine Bedeutung verloren hatte, war ihm bestimmt, dass diese sehnlichen Träume in Erfüllung gingen. Es begannen hier, mit den Worten eines Kirchengesangs, 6 nur erste Funken des Gottesbegehrens die große Leuchte zu entzünden, aber diese sollte hier noch nicht aufflammen. Nach Gottes Vorsehung war ihm beschieden, in düsterer Einöde zu erstrahlen, im Dickicht der Wälder von Radonesch. Von dort aus sollte das Licht seines geheiligten Lebens und seiner begnadeten Lehre leuchten, und zwar dem gerade damals aus der Unbekanntheit aufsteigenden Moskau, welches sich anschickte, Hauptstadt des ganzen russischen Landes zu werden, und leuchten auch für das gesamte Orthodoxe Russische Reich.

Schauen wir uns jetzt an, wie diese Gnadenleuchte aus dem Umkreis von Rostov Welikij in das Gebiet des noch unbedeutenden Radonesch hinübergetragen wurde, getragen von unsichtbarer Hand, der Vorsehung Gottes, die auch gewöhnliche Wege des menschlichen Handelns leitet.

1 Bei Stroev „Liste der Hierarchen“: Prochor, Bischof von Rostov von 1311 – 1328, † 7. Sept., Antonij von 1328 – 1336. Siehe auch die Handschrift von P.S. Kasanskij
2 Bei Pachomij in der Abschrift der Lese-Minäen von Metropolit Makarij. Wir benutzten die Ausgabe der Archäographischen Kommission.

3 Auf den vorderen Seiten einer Vita des ehrw. Sergij, 16. Jhdt., welche aufbewahrt wird in der Sakristei der Lawra, wird ein alter Mönch neun Mal abgebildet, und überall als junger Mönch ohne Bart, mit Flügeln und der Aufschrift: E n g e l G o t t e s. „Buchwissen“, sagt der Kellarios Simon Asarjin, „nahm ich vom Engel Gottes und nicht vom Menschen“, – Siehe Vorwort zu neuen Wundern des Ehrw. Sergij. Siehe Abbilder im Text.
4 Der im frommen Leben Russlands gebräuchliche Begriff „podvig“ lässt sich nur annähernd mit dem Ausdruck „geistiger Kampf“, Askese usw. umschreiben.
5 Ник. Лет. IV, 206 – 207.

6 Sedalen im Morgenamt nach dem Polyeleos, im Kanon für den Ehrw. Sergij.

Übersetzt aus dem Russischen: lfs / put

 

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