Im Herzen Russlands – eine Pilgerreise

Orthodox-christliche Pilgerreisen gelten den geheiligten Stätten der Anbetung Gottes, den Wirkstätten der christlichen Heiligen, sollen uns auf dem Weg persönlicher Heiligung neue Wege vermitteln.

Ende Juli dieses Jahres veranstaltete die deutschsprachige orthodoxe Gemeinde, Berlin-Lankwitz, erstmals seit ihrer Gründung am 27. 5. 2002 eine Pilgerreise zu den Reliquien ihres Patrons, des Narren in Christo, des Heiligen Isidor von Brandenburg und Rostow (Velikij). Mehr als zwölf Jahre waren vergangen, seitdem wir endlich, nach Expeditionen westwärts (Essex) und ostwärts (Rumänien) diese so wichtige Reise ins „Herz Russlands“ realisierten. Organisatorisch wirkten fleißig mit: Unser Gemeindepriester aus Weimar, Vr. Mihail, mit seinen Töchtern Elisabeth und Elena, Michael, unser Finanzmanager, Maria, die Reiseleiterin und Dolmetscherin, ihre Schwester Diana (russischsprachige Reiseführerin). Zusätzlich pilgerten in der Gruppe der Gemeindeälteste, Hans-Georg, Katharina, Adrian, Nadeshda mit ihren Töchtern Lidija und Darija, Jelena, Peter. Insgesamt waren wir 14 Leute, und 6-8 Tage unterwegs.

Die Pilgergruppe hob ab vom Flughafen Berlin-Tegel. – Noch am Vortag durfte ich ein 50. Patronatsfest erleben, und zwar in der Hamburger Gemeinde des hl. Prokopios von Lübeck, Narr in Christo, Wundertäter von Ustjug. Einige Pilger aus meiner russischsprachigen Gemeinde “Schutz der Gottesgebärerin” Berlin-Charlottenburg nahmen teil an der erzbischöflichen Feier der Göttlichen Liturgie, für jenen zweiten deutschsprachigen Narren in Christo, der wie der Heilige Isidor gleichfalls nach Russland ging. So war ich entsprechend auf die große Russlandreise eingestimmt. – Nach ca. zwei Stunden schwebten wir also bereits im großen Bogen über das “Dritte Rom”, jene Hauptstadt Moskau, mit ihren erkennbar riesigen Ausmaßen. Nach glücklicher Landung auf dem eher südlich gelegenen Flughafen Domodedovo am frühen Nachmittag gab es zunächst eine längere Wartepause, weil der Fahrer der Firma “Suntransfers” uns nicht so schnell fand. Schließlich, eingestiegen in den Transferbus nach Sergijew Possad mitsamt leichtem Gepäck, sowie mit Diana und Adrian, die aus Moskau zu uns gestoßen waren, gerieten wir auf der streckenweise sechsspurigen Autobahn in einen mehrstündigen, wie sich herausstellte, unfallbedingten Stau. Das gab uns die Muße, eine Fülle erster Eindrücke, unmittelbar gleich in den Busgesprächen verarbeitet, diesem weiten Russland abzugewinnen. Es handelte sich um einige Dutzende Werst beidseits ragende Wohnbauten, um viele schöne altrussische, teils verwahrloste Holzhäuser, ansonsten um die von Birkenwäldchen umwachsene, sehr oft brachlandflankierte Schnellstraßenlandschaft.

Gegen Abend erreichten wir dann die Stadt Sergijew Possad, in deren Mitte sich unseren Augen, hinter hohen, weißen, wehrhaften Mauern, das märchenhafte Panorama der Lawra der Allerheiligsten Dreiheit des hl. Sergij von Radonesch darbot. Diese Lawra war für mich ja das erste große Ziel, weil ich schon bei der Übersetzung einer umfangreichen Vita des Ehrwürdigen Sergij die Geschichte des für die russische Orthodoxie so bedeutsamen Ortes faszinierend fand: Da war Waldesdickicht im 14. Jahrhundert, und jetzt dieses prächtige Klosterensemble. Doch zunächst fuhren wir zum modernen „Hotel Hantri“, wo unsere Pilgergruppe komfortabel einquartiert, und abends dann ausgiebig verköstigt wurde. Statt einer erwarteten Gästezelle bezog ich eine Art “Präsidenten-Suite”.

Frühmorgens gegen fünf Uhr (Festtag des Hl. Antonij vom Kiewer Höhlenkloster, Begründer des Mönchtums in Russland) geleitete unsere Maria die relativ gut erholten Pilger in weniger als einer Viertelstunde ins Zentrum der Lawra, zur leider eingerüsteten Kathedrale der Heiligen Dreiheit mit dem Schrein der Reliquien des hl. Sergij. Nach Durchqueren

des Tores und des weiten Innenhofs standen wir recht ergriffen an der seitlichen Schwelle der Kirche, welche bereits ganz überfüllt war. Heraus drang feierlich erhabener Mönchsgesang, und erst nach geraumer Weile wagten wir, uns in den hohen, mit uralten Fresken bemalten Sakralbau hineinzudrängen. Unser Blick glitt über die Ikonostase und die reich geschmückten Wände, zur Decke empor, und dann wieder hinunter zu der Reihe ehrwürdiger Mönche, und schließlich zur rechten Seite, wo die Gebeine des hl. Sergij aufgebahrt waren. Es bildete sich eine Schlange von Gläubigen, welche, vom greisen Mönchswächter stoisch beäugt, der Reihe nach, sich bekreuzigend, vor dem Schrein niederfiel, und die Füße, den Gewandsaum, das bedeckte Haupt des Heiligen mehr oder minder andächtig küsste. Hier also lag, und in diesem Gefilde wirkte einstmals der hl. Sergij von Radonesch, dem die Gottesmutter erschien, jener Begründer einer weit gefächerten Klostertradition, welche die russischen Lande in der Epoche der Überfälle von Ost und West geistig zu einen vermochte, zum Wachstum der “Heiligen Rus'” entscheidend beitrug.

Da unsere Pilgergruppe nach persönlicher Reliquienverehrung etwas später unschlüssig am Eingang stand, während der Gesang der Mönche nahezu unmerklich in die Göttliche Liturgie überging, zog es mich bald wieder ins Gotteshaus hinein. Das hatte zur Folge, dass ich während der längeren Gebetspause vor Austeilung der Heiligen Gaben von unserer Gruppe draußen niemand mehr vorfand. So irrte denn das „verlorene Schaf“ eine Weile über das Klostergelände, investierte etwas Zeit auch außerhalb der Lawra mit der Suche, verzichtete aber schließlich auf das bis zehn Uhr angesetzte Hotelfrühstück, in der sicheren Hoffnung, die Pilger bei der eingeplanten Führung wiederzufinden. Währenddessen fielen fernöstliche Touristenmassen mit Fähnchen und Kameras über die Swjato-Troizkaja Sergieva Lawra her, so dass ich zu träumen begann, dass vielleicht auch nach China, Korea, wie bereits nach Japan die Kunde von christlicher Orthodoxie vordringen könnte. Kurz vor elf Uhr fand ich unsere Gruppe wieder, im Begriff, den Rundgang vor den Mauern und in die Lawra hinein zu starten. Auf der seitlichen Treppe der Maria-Entschlafens-Kathedrale mit goldener Mittelkuppel und vier blauen Zwiebeln, sternenübersät, schenkten uns Diana und Maria reichlich Information über Geschichte und bauliche Eigenheiten des Kloster-Ensembles. So hörten wir von der wundersamen Heilquelle, von den Kämpfen gegen Polen und Litauer, von den Kirchen des Heiligen Geistes, der Geburt Johannes des Täufers, vom Glockenturm (höher als der im Moskauer Kreml) und auch vom Metropoliten-Palast. Sodann führte uns Vr. Mihail in die weitläufige Krypta mit den Grabstätten der Patriarchen Alexij I. und Pimen, welche wir verehrten, nachdem Vr. Mihail Gebete gesprochen hatte. Danach erkundeten wir noch vieles innen und außen, liefen nachmittags zu einer hoch gelegenen Aussichts-Plattform, welche die Schönheit der Gesamtanlage erneut vor Augen führte. Gegen fünf Uhr, nachdem wir noch das Wohnhaus von Pavel Florenskij entdeckt hatten, besuchte ich mit einigen aus der Gruppe den Gottesdienst der jetzt prachtvoll erstrahlenden Uspenskij-Kathedrale, den Vorabend des Festes jener Apostelgleichen Großfürstin Olga.

Nochmals zog es uns in aller Frühe zur Ruhestätte des hl. Sergij, wo heute ein Nonnenchor sang. Nach zweiter Verehrung der Reliquien des Heiligen wechselten wir alle zur Göttlichen Liturgie in den Uspenskij-Sobor, um dort Gedenkzettel abzugeben, Kerzen zu stellen, und den Gesängen und Gebeten zu lauschen. Wir mussten zeitig zum Frühstück und Packen ins Hotel zurück, weil uns um zehn Uhr ein Privatbus nach Pereslawl-Salesski bringen sollte. Und wiederum flogen Wälder und Felder, weiteste Horizonte an uns vorüber, und erfolgreich übte ich mich im Zählen fernab gesichteter Kirchenkuppeln. Schon in der Mittagszeit erreichten wir etwa 140 km nordöstlich von Moskau die historische Stadt Pereslawl am sog. Goldenen Ring, einst im Jahr 1152 als Festung angelegt, vom Großfürsten Juri Dolgorukij, dem Gründer Moskaus. Der Namenszusatz Salesski bedeutet „hinter dem Wald“. Zuerst besuchten wir das Feodorowskij-Frauenkloster, neu eröffnet nach der Sowjetzeit, mit blauen Kuppeln und dem charakteristischen orthodoxen Kreuz über Sichel. Vr. Mihail gelang es zu unserer Freude, die Äbtissin aus der Siesta zu bitten, die uns jedoch mit erlesener Herzlichkeit empfing, mit weit ausholender Sachkunde geleitete, und zum Schluss kleine Ikonen verschenkte, so die Ikone der Andronikowskaja-Gottesmutter, die vom hl. Theodor Stratilat, dem Namenspatron der berühmten Feodorowskaja des Zarenhauses. Wenn ich es richtig verstand, entschloss sich hier ein Richter-Kollegium, den Aufbau des Klosters zu finanzieren. Eben erst wurden zwei Seitentrakte der noch unfertigen Hauptkirche renoviert und geweiht. Nun ging die Fahrt weiter zum sog. Kreml, einer erhöhten Festungsanlage, mit verbliebenem Erdwall, Mauern und Wehrtürmen, inmitten die leider noch wenig restaurierte Verklärungskathedrale gelegen. Hier wurde einst Fürst Alexander Newski getauft, der Sieger über Schweden und Ordensritter, Nationalheld Russlands, orthodoxer Heiliger. Von der nordwestlichen Anhöhe hatten wir einen wunderbaren Blick über die Stadt Pereslawl auf den Pleschtschejewo-See, gleichsam ein blaues Meer, Erwerbsquelle ansässiger Fischer. Dort ließ auch der junge Zar Peter der Große einst eine Schulflotte kleinerer Kriegsschiffe bauen, woraus später die russische Marine erwuchs.

Wir fuhren weiter zum gleichfalls wieder eröffneten Männerkloster der Allheiligen Dreiheit, gegründet 1505, dem hl. Daniel dem Styliten von Pereslawl geweiht. Der pilgerfreundliche Heilige trug zuweilen Ketten am Leib und ein eisernes Halsband. Gleich an der Pforte sprang aus einer Art Container ein uniformierter Kosak mit Lederpeitsche heraus, um die nicht betuchten Frauen abzuwehren. Dieser Schreck ließ wohl erstmals einige Pilgerinnen zu den eingangs bereitgehaltenen Utensilien greifen. Zur Verehrung der Reliquien des hl. Daniel in der Hauptkirche des Klosters konnte man, wenn man wollte, jenes besagte Halsband und die Ketten anlegen. Dies alles bot uns noch tagelang Gesprächsstoff. Im weiteren Klosterhof mit Blick aufs Meer lag auch die Klause des Styliten, wo dann Vr. Mihail ein Gebet sprach. Auf Vorschlag unseres Busfahrers erlebten wir in der Folge eine weitere Überraschung. In einem auswärts gelegenen Tal stiegen wir zu einer Heiligen Quelle hinunter. Kurz entschlossen teilte sich die Gruppe in Mann und Weib, entkleidete sich bis auf die Haut, und tauchte jeweils dreimal in die kühlen, schwefligen Quellen des zweiseitigen Gehäuses. Derart erfrischt (wir sollten uns möglichst nicht abtrocknen) war jetzt in der Stadt die Essenspause angesagt. Bis wir nach etlicher Hin- und Her-Bewegung das äußerst preiswerte Lokal fanden, ließen sich noch viele Eindrücke sammeln, von der teils ungenügenden Infrastruktur bis hin zum geschäftigen Leben der emsigen Pereslawler. Gesättigt folgte nun bei starker Hitze ein großer Bummel an alten Kirchen vorbei über hohe Wallanlagen zum Flüsschen Trubesch, welches uns, nach Sitzproben in Fischerbooten, den idyllischen Weg zum See vorgab. Dort angelangt, lernten wir mindestens so etwas wie russische Riviera kennen. Alle ruhten aus, sonnten sich, aßen russisches Eis, und blinzelten über das Blau zum fernen Ufer.

Abgeholt in dieser Sommerfrische vom Busfahrer, reisten wir noch am gleichen Abend weiter Richtung Rostow (Velikij). Wiederum zogen die endlosen Wälder, Häuser, und auch Kirchen an uns vorüber, bis wir schließlich gleichsam träumend am Horizont das Große Rostow mit seinem silbrigen Kreml-Ensemble und den Nero-See aufsteigen sahen. Rostow, das jetzt den Beinamen Jaroslawskij trägt, zählt zu den ältesten russischen Städten, in der Nestorchronik schon erwähnt für das Jahr 862. Das erfuhren wir allerdings erst am folgenden Tag, denn der Abend war zunächst unserem recht modernen Hotel „Moskowsky Trakt“ gewidmet. Wiederum wurde die Pilgergruppe nobel untergebracht und leistete sich in oberer Etage, ein „fürstliches“ Abendmahl, mit reichlichem Gespräch an edel weiß gedeckten Tischrunden.

Es war nun schon Samstag, der Festtag der Erstmärtyrer Russlands, des hl. Theodor von Kiew mit Sohn Johannes, und unser erster Gang galt nun dem eigentlichen Reiseziel, der Kirche mit den Reliquien des hl. Isidor von Brandenburg und Rostow, des Narren in Christo. Diese helle, irgendwie arm und verwittert wirkende Kuppelkirche der russischen Schwestergemeinde lag ganz in der Nähe des Hotels, war erreichbar über schattige Schleichwege durch ein Wäldchen, lag separat hinter einem Wall. Als ich den Kirchenraum, die rundum übermalte hohe Vierung mit ihren ganz und gar verfallenen Fresken betrat, bekam ich wirklich feuchte Augen. Dieser vorgefundene Zustand entsprach sicher mehr als jeder prunkende Sakralbau jenem Gottesnarren, der „unter widrigsten Bedingungen, in Lumpen gehüllt, ein Leben für Gott (lebte), dabei klaglos Hohn und Spott (ertrug)“,i der nachts betend seine Hütte, einen Bretterverschlag, bewohnte, und tagsüber sich den Demütigungen der Rostower aussetzte. Hier, an diesem heiligen Ort, wo jetzt statt jener Hütte die Kirche steht, starb er auch. Wir fielen nacheinander vor dem Schrein der Gebeine des heiligen Isidor nieder und dankten ihm für dreizehn Jahre Fürsprache vor Gott. Nachdem wir schon draußen die Gärtnerin und drinnen am Stand die ältere Gemeindehelferin begrüßt hatten, kam dann bald Vr. Oleg hinzu, der Gemeindepriester, der Vr. Mihail und unsere Pilgergruppe herzlich willkommen hieß. Es folgten einige Erklärungen in Russisch, dann die Turmbesteigung sowie ein längerer Marsch zu einer weiteren von Vr. Oleg betreuten Kirche.

Im Innenbereich des Rostower Kreml, auf dem Kathedralenplatz, hatte Vr. Oleg eine Überraschung bereitet. Vom breiten Glockenturm erscholl, wie es hieß, pünktlich zum Empfang der deutschen Gäste ein äußerst melodisches Glockengeläut. Wir durften daraufhin aufsteigen zur Glockenbrücke mit herrlichem Ausblick auf die verschiedenartigsten Kuppelsilhouetten des Kreml. Ein offenbar professioneller, redseliger Glöckner holte dann mehrfach aus, mit Seil den riesigen Klöppel jener „Syssoj“ in Bewegung zu setzen, einer stockwerkhohen ca. 32 Tonnen schweren Hauptglocke, gegossen 1687 vom Meister Fjodor Terentjew. Dreimal erbebten wir nun vor dem ca. 18 km weit dröhnenden, nur zu besonderen Festen angeschlagenen Schall. Noch minutenlang vibrierte das Metall zwischen unseren Händen. Sodann besuchten wir im Kreml die Entschlafens-Kathedrale (Uspenskij sobor 1589) mit fünf silbrigen Kuppeln, die etlichen Stürmen trotzten. Das war der vierte Bau nach jener Holzkirche, welche an dieser Stelle nur drei Jahre nach der Kiewer Taufe Russlands der hl. Fürst Wladimir errichten ließ. So wurde mir jetzt erst klar, dass lange vor der Gründung Moskaus, noch vor den tatarisch-mongolischen Einfällen, Rostow, und dann ab 1207 das Fürstentum, das Zentrum Russlands war. Der Freskenschmuck der Kathedrale wird sehr allmählich restauriert. Wir begingen zum Schluss die Krypta, welche noch vor Jahren voll unter Wasser stand, mit dem Reliquienschrein des kanonisierten Bischofs Leontij.

Den Nachmittag verbrachten wir mit Stadtbummel und Spaziergang zum schönen Nerosee, welcher aber im Unterschied zu Pereslawl grün, nicht blau schimmerte, weil er im Schnitt etwa nur anderthalb Meter flach sein soll. Dann wurde es Abend, und wir kamen zusammen zum Abendgottesdienst beim Schrein des hl. Isidor. Wir wollten uns alle zur Eucharistie vorbereiten, standen voller Andacht am Vorabend der Feier der Synaxis des Erzengels Gabriel und der Gottesmutter-Ikone „Axion estin“ im geheimnisvollen Halbdunkel der ehrwürdigen „Stammkirche“ unseres Gemeindeheiligen. Vr. Mihail zelebrierte gemeinsam, teils in Deutsch, mit Vr. Oleg, und der Chor wurde durch Katharina und Georg unterstützt. Adrian diente im Altar.


Am nächsten Morgen, nach Gebetsvorbereitung und ohne Frühstück trafen wir zum geplanten Höhepunkt unserer Reise, der gemeinsamen Göttlichen Liturgie der beiden Gemeinden des Hl. Isidor zusammen. Es war ein feierliches russisch-deutsches Zusammenwirken beider Priester, der Helfer im Altar und der Sänger im Chor. Vr. Mihail predigte in Russisch. Ausnahmsweise erst unmittelbar vor der Eucharistie wurden noch Beichten abgenommen, mit der dringlichen Bitte um Kürze. Fast alle kommunizierten, und die Freude über das Ereignis stand in allen Gesichtern, und der Wundertäter von Rostow und der Erzengel Gabriel freuten sich sicher mit. Vr. Oleg überraschte uns dann nochmals, in seiner Ansprache, mit der Mitteilung über ein neues Wunder. Wie er herausgefunden hatte, fand am gleichen Tag, sogar fast zur gleichen Stunde, als Erzbischof Feofan damals „dem deutschsprachigen Teil der russischen Gemeinde (Berlin) seinen Segen und seine Einwilligung gab, eine Gemeinde zu bilden“
ii, in der Rostower Gemeinde des hl. Isidor die erste Göttliche Liturgie statt! Wenn das kein Wunder ist (die Gemeinden kannten sich doch noch überhaupt nicht)! Vr. Oleg hatte sich übrigens seinerzeit ganz bewusst entschlossen, die Aufbauarbeit gerade in dieser Kirche übernehmen. So verneigten wir uns dankend und kniefällig  abermals vor den Reliquien des heiligen Isidor, nachdem Vr. Mihail das flehentliche Gebet an ihn in unserer deutschen Übersetzung (“O großer, gottgefälliger, heiliger, gerechter Isidor…”iii für uns alle gelesen hatte. Danach übergaben wir die noch mehrfach aufgestockte Geldsammlung mitsamt unseren mitgebrachten Geschenken an Priester und Gemeinde, und kamen noch mit vielen anderen Gemeindemitgliedern ins Gespräch. Es wurde ein reger wechselseitiger Austausch, auch per website und e-mail, vorgeschlagen, auch weitere Besuche, z.B. schon nächstes Jahr, zu einem wichtigen, runden Datum (welches ich vergessen habe). Nun trennten sich aber leider schon die Wege der Schwestergemeinden, und nach dem  Mittagessen im Hotel mussten wir auch schon Vr. Mihail mit

Maria und Elisabeth Richtung Moskau verabschieden.

Der Verlust unsrer geistlichen Führung wurde ein wenig kompensiert durch kunsthistorische Exkurse der jetzt geschrumpften Pilgergruppe in den noch musealen Teil des Rostower Kreml. Per Eintrittskarte wurden wir sachkundig von Diana und Maria durch freskenübermalte Kirchen, Hallen, Wandelgänge geleitet, so u.a., wenn ich mich recht entsinne, durch die Kirchen der Auferstehung, der Wegführerin, und Johannes des Theologen. Mit besonderem Interesse studierte ich den sehr oft wiederkehrenden Aufbau der turmhohen Ikonostasen, mit der Deesis über der Königstür, seitwärts die Apostelfürsten und andere Apostel, darüber die Reihe der orthodoxen Feste, darüber die thronende Maria mit Jesuskind, flankiert von Propheten des Alten Testaments, darüber, unbegreiflich, „der Alte der Tage“ (wie Katharina eingrenzte) mit Christus im Schoß, daneben wohl Patriarchen, darüber Christus am Kreuz mit Maria und Johannes, noch höher gelegen die Kuppel mit dem Pantokrator. Welch ein gemalter Reichtum, welch eine Schönheit! Es folgten im Rundgang palastähnliche Anlagen (der Metropolitenpalast von außen, mit Wirtschaftsgebäuden), eine Museumshalle und dann schließlich das Hof-Intérieur, wo sich vor einer Mauerritze eifrig junge Frösche fotografieren ließen. Letzten Endes saßen wir etwas erschöpft auf grünem Gras im Museumsgarten, um gesellig zu picknicken.

Dann wandelten wir hinüber zum Nerosee, wo wir, statt, wie zuerst vorgeschlagen, baden zu gehen, einen leichteren Motorkahn charterten, welcher uns Pilgern rückseitig den herrlichen Ausblick auf das Rostower Kreml-Panorama bot, und vorwärts in ca. zehn Minuten zum Erlöser-Jakob-Kloster tuckerte, bildschön auf einer Landzunge am See gelegen. Dieses Kloster weist prächtige klassizistische Architektur auf, und war Alterssitz des hl. Metropoliten Dimitrij Rostowskij, der die bekannten zwölf Bände Heiligenviten geschrieben hat, nach dem auch das andere Rostow (am Don) benannt ist, und dessen Heiligenleben ich fast jeden Morgen mit meiner Frau vor dem Frühstück lese. Das Kloster strahlte irgendwie im Glanz des Sommers einen tiefen Frieden aus, und zum Glück öffneten sich die zunächst verschlossenen Pforten zur Kathedrale des Reliquienschreins des hl. Dimitrij doch noch, da ein einsichtiger, gereifter Mönchsvater wohl eigens uns Deutsche zu betreuen gedachte, und die nachdrängenden Gruppen abwies. Wir erhielten jetzt genauere Anweisung, wie die Gebeine zu verehren seien, außerdem auf unser Haupt die segnende Hand, sowie desweiteren eine Unmenge äußerst interessanter Belehrungen. Dieser Mann hatte wohl die hohe Gabe der Hellsichtigkeit, weil er urplötzlich unterbrach, und mir auf meinen elenden Kopf zusagte, ich solle nicht so viel nachdenken. Das wiederum relativierte er etwas später mit sanftmütigem Blick, auch das Gehirn sei ja eine Gabe Gottes. Michael war von ihm so begeistert, dass er vielleicht sogar demnächst wiederkehren möchte. Wir schlenderten froh gestimmt über das Klostergelände, bildeten eine angeregte Gesprächsgruppe in einer Art Steinlaube, und nahmen dann den langen Rückweg nach Rostow am Seeufer zu Fuß. Mit Lidija unterhielt ich mich eingehend über geistliche Fragen, nachdem ich schon am Vortag ausführlich mit Darija, ihrer Schwester, übrigens auch höchst philosophisch mit Adrian gesprochen hatte. Mit Jelena betete ich dann nochmals, während die übrige Gruppe einkaufen ging, an der bröckelnden Außenmauer zum Sarkophag des hl. Isidor. Über seiner Kirche stieg die Mondsichel auf. Am späten Abend saß die Pilgergruppe noch beisammen, am langen Tisch vor dem Hotel, bei Wein, Früchten, Süßigkeiten, um des Erlebten und des unweigerlich bevorstehenden Abschieds zu gedenken.

Damit wäre eigentlich die Pilgerreise beendet gewesen. Doch alle hatten sich noch etwas Besonderes vorgenommen: Nadeshda wollte mit Lidija und Darija zum Swjato-Troizkij Serafimo-Diweewskij Monastir, dann in ihre Heimat weiterreisen, Jelena fuhr wohl gleichfalls zu den Ihren, Maria und Diana hatten irgendetwas Eigenes vor, Hans-Georg und Katharina und Adrian, sowie Michael und ich, wir wollten auf keinen Fall Moskau auslassen („wenn schon, denn schon“). So saß also die Restgruppe vormittags, am Festtag des Apostels Aquila und der hl. Priscilla, im Zug von Rostow nach Moskau, streng getrennt nach bereits tags zuvor georderten Klassen und Plätzen, denn wegen der Pendler vom Wochenende drohte Überbelegung, und sogar unsere Pässe hatten wir vorzuzeigen wegen der Terroristengefahr. Nach ca. zweistündiger Reise rollte der Zug über diverse Vorstadtringe endlich in Moskau ein. Auf dem Bahnsteig ereignete sich der leicht schmerzliche Abschied voneinander. Ab diesem Zeitpunkt nahm in meiner verbliebenen Mini-Gruppe Michael das Heft in die Hand, fand schnurstracks ein Taxi, welches uns beide quer durch die Metropole zur nördlichen Mitte des Zentrums, ins Hotel “Golden Apple”, chauffierte. Nochmals wurde ich elender Pilger über Gebühr nobel einquartiert. Aber dankend für alles erwiesen wir gleich einer Kirche in der Nähe unsere Referenz, ruhten uns zunächst in einer preiswerten “Gastronomitscheskaja” aus, an der breiten Twerskaja Uliza, wo auch schon bei der Pilgerreise 2014 unsere Marina gegessen hatte.

Da leider nur knappe zwei Besuchstage vorauslagen, eilte ich jetzt am Nachmittag, Michaels Erklärungen am Ohr, vorüber am Puschkin- und Dolgorukij-Denkmal, die mehrspurige Twerskaja hinab. Das Autotempo auf dieser Magistrale schien mir vergleichsweise beängstigend. Dann öffnete sich, hinter dem Manegenplatz und dem Hotel Moskwa, nachdem wir die Ikonen zweier Kirchen Nähe Historisches Museum verehrt hatten, jener weite “Schöne” oder ehemals “Rote” Platz, mit der zinnengekrönten nordöstlichen Kremlmauer, vor der bekanntlich auf vorgefertigten Tribünen hohe Politiker, zuletzt am 9. Mai Putin mit Xi Jiping und Nasarbajew, früher Stalin, Lenin und Trotzki, den riesigen Militärparaden freundlichst zugewinkt hatten. Wir schritten nun aber demonstrativ nicht aufs Lenin-Mausoleum zu, sondern richteten unsere Blicke im strahlendem Sonnenlicht auf die goldenen Zwiebeln und Glockentürme der, wie ich später dem Baedeker entnahm, Maria-Verkündigungs-, Maria-Entschlafens- und Erzengel-Kathedralen auf dem Areal des Kreml, sowie auf dessen wehrhafte Ecktürme. Dann zeigte mir Michael auf der Gegenseite die “Passagen” des schier endlosen Kaufhauses GUM, wohl nachempfunden dem “fin du siècle” von Paris. Gleich liefen wir aber wieder auf den Schönen Platz hinaus, den mächtigen Spasskij-Turm sowie die farbenprächtige, einem russischen Märchen entsprungene Wassilij-Kathedrale vor Augen, am anderen Ende des Platzes. Der hl. Wassilij war auch ein Narr in Christo, hatte sich Iwan dem Drohenden widersetzt. Aus Zeitgründen verzichteten wir auf die gewiss sehr aufwendige Innenbesichtigung dieses musealisierten Touristentraums, und wendeten die Schritte Richtung Alexandergarten längs der westlichen Kremlmauer mit dem Denkmal des Unbekannten Soldaten und dem Romanow-Obelisk. Im der Halle für die Kreml-Eintrittskarten entschied ich mich nach einigem Zögern gegen eine Besichtigung des Innenlebens des Kreml, weil das dann den ganzen Rest meiner Pilgerzeit verschlungen hätte. Stattdessen übte ich kirchlichen Gehorsam, und eilte durch Straßen sowie tief liegende Gärten Richtung Erlöser-Kathedrale, zum Abendgottesdienst.

Michael hatte inzwischen seiner Einführungspflicht Genüge getan, und überließ, auch wegen seiner Knieschmerzen, die restliche Zeit meiner privaten Entdeckerfreude. So stand ich also zunächst vor, und dann auch innerhalb dieses herrlichen, von Stalin 1931 gesprengten, im alten Stil wieder errichteten, im Jahre 2000 geweihten Kirchenbauwerks, außen ganz weiß mit zentraler Kuppel und bronzenen Skulpturen-Szenen, innen mit überwältigender Fresken-Bemalung, mit streng geordneten Motiven und Figuren aus Altem und Neuem Testament. So wie mit der Kirche ursprünglich an den russischen Sieg über Napoleon erinnert werden sollte, so symbolisiert heute der Neubau den Sieg über das atheistische, kirchenfeindliche, militante Sowjet-System. Getaucht in feierliches Licht und vollkommen erfüllt vom brausenden Gesang der beiden Chöre auf den hohen Emporen, verbrachte ich die ganze Vorfeier für den hl. Apostelgleichen Großfürsten Wladimir, innerlich sehr bewegt und ganz konzentriert, in der Nähe des kapellenförmigen Hauptaltars. Zum Ende drängten sich die Gläubigen am Ausgang, weil ein Gewitter mit heftigem Regenguss eingesetzt hatte. Als es etwas nachließ, wagte ich mich auf die „Patriarschij most“, die nahe Fußgängerbrücke zur Bolotnij-Insel mit dem merkwürdigen Denkmal Peters I. am Horizont. Das Gewitter brach wiederum los, und ich musste vor den flutenden Wassermassen Deckung suchen. Aber unbedingt wollte ich längs der Moskwa das Süd-Panorama des Kreml, welches ich so oft auf Glanz-Prospekten bewundert hatte, selbst erleben, und so legte ich, bei Blitz und Donner, mit vom Sturm leicht zerfetztem Regenschirm, völlig durchnässt, die ca. 2 km lange Strecke bis zur Bolschoj-Moskvoreckij-Brücke zurück, auf welcher vor kurzem Nemzow ermordet wurde. Auf der Brücke standen eingeregnet – ich dachte es sei ein Blumenverkauf – zwei Nemzow-Aktivisten. Nochmals überquerte ich den leeren, nun fast eher in finsteres Rot getauchten, Schönen Platz. Das Gewitter erreichte seinen grollenden Höhepunkt über dem Kreml, und schon mutmaßte ich, der Blitz würde senkrecht ins Lenin-Mausoleum einschlagen, wo jetzt eine einsame verstörte Wächterin Wache hielt, oder gar in die Marien-Kathedralen des Kreml, wie jüngst erst in die Petersdom-Kuppel des Vatikan. Doch stattdessen zuckten die Blitze horizontal in breiter Front wie ein kolossales historisches Gemälde oberhalb des Ensembles, was mir zu symbolisieren schien, dass Gottes Macht doch wahrhaft stärker ist als die Wirkkraft einer einbalsamierten Leiche, und dass Seine Kirchen fortan durch höhere Macht geschützt sind. Den pudelnassen Heimkehrer empfing der recht besorgte Michael mit Käseschnitten und Weinflasche, welche wir, bald des Weingeistes voll, leerten bis auf den Grund.

Noch stand ein voller Tag bevor. Michael wollte wegen seiner Knie zur Rubljow-Ikone und zur Vladimirskaja in die Tretjakow-Galerie, ich wiederum wollte auf keinen Fall die Göttliche Liturgie verpassen, die Feier des 1000-sten Jahrestages des Entschlafens des hl. Großfürsten Wladimir. Nachdem ich mich im Untergrund der Station Puschinskaja mit den Plänen und Regeln des U-Bahn-Netzes vertraut gemacht hatte, gelangte ich rasch zur Erlöser-Kathedrale, in welcher sich, nach lockerer Visitation auf dem Vorplatz, bereits dicht gedrängte Mengen von Gläubigen versammelt hatten. Anfangs stand ich hinter Soldaten mit Offizieren, vor ihnen eine Marineeinheit, ringsum, festlich gekleidet, ältere und jüngere Bürger, wie es schien, aus ganz Russland. Erneut brausten die Chöre, leuchtete der hohe Kirchenraum, ergriffen mich der Klang der Gebete, der Gesänge, die liturgischen Wortfolgen, dann auch die Stille, so dass mich, wie schon mehrfach auf der Pilgerreise, Tränen anrührten. Von weitem vernahm ich die Predigt von Patriarch Kyrill, gelangte dann aber, mitsamt hektischen Fotografen, zur Mitte, wo sich nunmehr die ganze Pracht des Ereignisses meinen Augen darbot. 15 Metropoliten (wie eine Zeitung berichtete), mindestens 100 Erzbischöfe, Bischöfe, Priester – Mönche, Nonnen aus ganz Russland, zudem einige Hierarchen ausländischer Landeskirchen waren vom Altarraum bis zur abgegrenzten Mitte der Kirche, wo die Vladimir-Ikone platziert war, äußerst prächtig und feierlich versammelt. Nach der lang währenden Austeilung der Heiligen Gaben, an Klostergemeinschaften, an eigens berufene Würdenträger der Stadt und des Landes, wurden etliche Ansprachen gehalten. Zuvor hatte erneut der Heiligste Patriarch Kyrill ganz nahe auf geschmücktem Podest Richtung Altar das Wort ergriffen. Etwa eine Stunde später verließ ich dann die Kathedrale des Erlösers, im Gefühl, gerade heute die Klimax meines Lebens überschritten zu haben.

Vr. Mihail hatte ich bei der Abschiedmahlzeit in Rostow gefragt, welche Besuche er mir für Moskau empfehlen würde. Er nannte das Danilow- und das Donskoj-Kloster, nicht weit auseinander. So machte ich mich also, wieder per Untergrund, auf den Weg. Die Moskauer Rolltreppen in die Unterwelt sind schier endlos, ähnlich denen von St. Petersburg. Das Danilowkskij-Monastir erreichte ich per Nachfrage durch Grünanlagen zu Fuß. Es soll das älteste Kloster Moskaus sein, geweiht dem hl. Daniel Stolpnik, den ich ja schon von Pereslawl her kannte, gegründet vom hl. Daniel Moskowskij. Dessen Reliquien durfte ich gleich in der ersten Kirche auf oberer Ebene verehren. Die im klassizistischen Stil erbaute Dreifaltigkeitskathedrale war leider nicht geöffnet, so dass ich auf dem blumengeschmückten Klostergelände umherwanderte, bis ich, nach Verneigung vor einem Denkmal des hl. Wladimir, die schlichte Residenz des Patriarchen in den Blick bekam, mit großem Christus-Ikonen-Relief an der Gebäudefront. Ich öffnete sogar eine Sperre, um mich auf der Bronzetafel zu vergewissern, dass hier auch der Heiligste Synod der Russischen Orthodoxen Kirche seinen Sitz hat. Dieser wurde im Jahr 1988 anlässlich der 1000-Jahr-Feier der Taufe Russlands durch den hl. Vladimir mitsamt dem Sitz des Patriarchen vom Kloster der Allheiligen Dreiheit in Sergijew Possad hierher verlegt. So schloss sich also mit dem hl. Sergij und dem hl. Daniel ein Kreis der Pilgerreise.

Es gelang es mir, einen Trolleybus zu besteigen, welcher noch dazu geradewegs nach etlichen Stationen nahe Donskoj-Kloster Halt machte. Wie leicht an den bröckelnden Mauern und Türmen zu erkennen war, handelte es sich, wie auch beim Danilow-Komplex, um ein ehemaliges Wehrkloster. Hier sammelte sich 1591 zur Entscheidungsschlacht das russische Heer gegen die Krimtataren. Zu diesem Sieg verhalf damals die wundertätige Donskaja-Ikone (das Original befindet sich in der Tretjakow-Galerie). Von hier aus soll auch Napoleon das brennende Moskau beobachtet haben. Der erste Eindruck dieses Klosters war für mich der einer großen Baustelle. Tiefe Schächte wurden ausgehoben, riesige Rohre verlegt, überall regten sich Arbeiterhände, was ja ein Segen ist. Eine der sieben alten Kirchen fand ich etwas später quasi entkernt vor, einen kompletten Rohbau. Ich betrat zuerst die fünfkupplige Große Kathedrale mit gewaltiger Ikonostase bis hoch unter die Wölbung. Wie von geheimer Hand geführt, entdeckte ich bald an der rechten Seite den Sarkophag des hl. Tychon, des tragischen Patriarchen zur Zeit jener Revolution. Kniefällig büßte ich ein wenig die wilde Studentenzeit. Nur wenige Schritte links durfte ich auf gleiche Weise ein Duplikat der Donskaja verehren. Im Anschluss pilgerte ich über den parkähnlichen Klosterfriedhof mit den uralten Grabmälern und Grabkapellen, viele aus der Barockzeit. Gott wollte mir wohl nochmals ein deutliches Zeichen geben, denn nach Verlassen des Klosters setzte abermals ein Gewitter ein, noch furchtbarer als das gestrige. Das Wasser floss nur so über die Bordsteine, ich flüchtete längs der Straße, ich barg mich unter Hecken. Schließlich, als ein mächtiger Blitz mit Donnerschlag wenige Häuser vor mir niederfuhr, regte sich unwillkürlich in mir das Jesus-Gebet: Herr Jesus Christus… Und, vor Schreck den Kopf zur Seite wendend, blickte ich, kaum zu glauben, geradewegs auf eine Christus-Ikone! Sie war in der Wand einer Kirche eingelassen, welche ich bis dahin überhaupt nicht bemerkt hatte. Es war die Cerkow Risopoloschenija, der Niederlegung des Gewandes der Gottesgebärerin. Über ihren Hof gelangte ich schnell zum Eingang der Kirche, wo ich wohl einigen Frauen ein gespenstiges darbot. Drinnen wurde nämlich, unbeeindruckt von Blitz und Donner, der Akathistos des hl. Seraphim von Sarow gesungen, weshalb ich lange lauschend verweilte, mich aber nicht zu den Ikonen herein traute. Als der Regen nachließ, dankte ich im Herzen der Gottesmutter, und eilte nun auf Umwegen zur Sabolovskaja-Station, von wo mich die U-Bahn nach Kitaj-Gorod, östlich des Kremls, brachte. Über die Ljubjanka, wo sich das KGB-Gefängnis befand, und die Nikolskaja-Uliza verirrte ich mich zunächst noch im sog. „Ochotnyj Rjad“, einem mehrstöckigen, unterirdischen Shopping-Tempel unter dem Manegenplatz, bevor ich dann zur Oberfläche tauchte an der Twerskaja, welche ich auf der linken Seite hochlief, nicht ohne auf jenes renovierte Moskauer Rathaus zu achten, von dessen Balkon Stalin, Lenin, Trotzki ihre Reden schwangen. Im Hotel tranken wir Michaels zweite Rotweinflasche bis zur Neige.

Der letzte Tag brach an. Um 11 Uhr sollte uns ein Taxi zum Flughafen bringen. Noch aber hatte ich die Reliquien der hl. Matrona von Moskau nicht aufgesucht, wofür mir Helena aus Moskau bei der Pilgerfahrt nach Hamburg am Festtag der Gemeinde des hl. Prokopios eine genauere Adresse vermittelt hatte. Um dies noch gelingen zu lassen, musste ich jetzt präzise handeln wie ein Uhrwerk. Punkt 7 Uhr war ich der erste Frühstücksgast im „Golden Apple“, erreichte in 30 Minuten die Station Marxistkaja (Helena hatte die Proletarskaja empfohlen), wo am Ausgang zur verbundenen Taganskaja wie bestellt eine sehr liebe, ältere Nonne mir den Weg wies, stieg dann bereits geübt erneut in einen Trolleybus, und fand mich nach zwei Haltestellen gegen 7.45 Uhr an der Pforte des Pokrovskij-Monastir vor, einem Frauenkloster. Ich hoffte, zu noch recht früher Stunde nicht die zwei angesagten Schlangen anzutreffen. Aber weit gefehlt, die Schlange zu den Überresten der hl. Matrona reichte bis tief in den Garten hinein. Demütig stellte ich mich ans Ende, und hatte nun ca. eine Stunde Gelegenheit, im strahlenden Sonnenlicht unsagbar viele Frauen mit Blumensträußen, das bunte russische Volk, das rege Klosterleben zu bestaunen. Aus der Kirche erklang der Gesang des Morgengottesdienstes, und mehr und mehr wandte ich mich im Gebet an die Heilige, die mir bei Übersetzung einiger ihrer Lebenszeugnisseiv nahe gekommen war. Gegen 8.30 Uhr erreichte dann die Schlange die ikonengeschmückte Vorhalle, und wenig später wurden wir wegen der Menge leider allzu schnell an den voll versilberten Baldachin-Schrein heran-, und nach Kniefall und christlichem Kuss wieder heraus geleitet. Mit zwei erworbenen Wasserbehältern eilte ich jetzt zur Heilquelle, und, nach Abfüllen beim Absingen des Troparion der hl. Matrona, ca. 9.15 Uhr zur zweiten Schlange. Diese hatte die wundertätige Ikone an der Außenwand zum Ziel. Die Sonne lastete drückend auf den Menschen, doch das tat ihrem Frohsinn, der Geduld und den Gebeten keinen Abbruch. Nur ich musste leider, fast in der Mitte des Zugs angekommen, gegen 10.15 Uhr abbrechen, um nochmals per Trolleybus und U-Bahn unser Hotel pünktlich zu erreichen. Selbstverständlich hatte ich mich zuvor noch dreimal vor der Ikone außerhalb des Gitters verneigt.

Eine Art Diplomatentaxi brachte die beiden Pilger nach langer Fahrt durch die Außenbezirke der Metropole zum Domodedovo, wo noch ungefähr drei Stunden bis zum Abflug verblieben. Diese vergingen selbst wie im Fluge, gesprächsweise, beim russischen Snack, in der orthodoxen Flughafen-Kapelle des hl. Michael. Der Rückflug war ruhig und schön, bei segensreichem Gespräch. Erst über Berlin türmten sich aus der Sicht der hoch fliegenden Pilger die Wolken.

14.8.2015 upt

i Aus: Michaels Reisebuch (Eigenverlag): „Der Goldene Ring – Begegnungen in Altrussland – Studienreise vom 26.06.2014 – 05.07.2014, S. 101

ii Formulierung aus unserem Gemeindeprospekt

iii abgedruckt in Michaels Reisebuch, a.a.O,, S. 97

iv Hl. Matrona, Stariza von Moskau (deutsch), Edition Hagia Sophia, Wachtendonk, 1. Auflage 2012, 167 Seiten

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